Kraepelin Zitat 2 : Einleitung zu seinem Lehrbuch

Emil Kraepelin (1856 – 1926) schreibt in der Einleitung zu seinem Lehrbuch (6. Auflage 1899)

(Buchnachweis siehe unten)

„Einleitung

Psychiatrie ist die Lehre von den psychischen Krankheiten und deren Behandlung. Ihren Ausgangspunkt und deren Grundlage bildet die wissenschaftliche Erkenntnis des Wesens der Geistesstörungen. In der Lösung dieser Aufgabe waren schon die Aerzte des Alterthums so weit fortgeschritten, dass sie das Irresein mit gewissen körperlichen Störungen in Verbindung brachten, namentlich mit dem Fieber und den Veränderungen der Körpersäfte. Leider gingen diese zu Lehrgebäuden bereits entwickelten Anschauungen mit dem Zusammenbruche der alten Cultur fast völlig wieder verloren. Dafür drangen im Mittelalter einerseits scholastisch-philosophische, andererseits religiös-abergläubische Vorstellungen in die Auffassung des Irreseins ein und verdrängten rasch die vorhandenen Ansätze eines naturwissenschaftlichen Verständnisses. Die Geistesstörungen waren nicht mehr Krankheit, sondern Werk des Teufels, Strafe des Himmels, bisweilen auch göttliche Verzückung. Nicht der Arzt beschäftigte sich mehr mit der Erforschung und Behandlung des Seelengestörten, sondern der Priester suchte ihm die bösen Geister zu vertreiben; das Volk betete ihn als Heiligen an, und die Hexenrichter liessen ihn in der Folterkammer wie auf dem Scheiterhaufen für seine vermeintlichen, wahnhaften Sünden büssen.

Mit der Wiedererneuerung der Wissenschaften und insbesondere mit dem Aufschwunge der Medicin begann allmählich auch das Interesse der Aerzte sich wieder den Geisteskrankheiten zuzuwenden. Allein es dauerte Jahrhunderte, bevor die klare Erkenntnis sich überall Geltung zu erringen vermochte, dass die Seelenstörungen nur vom ärztlichen Standpunkte aus richtig erforscht und anerkannt werden können. Noch Kant vertrat die Anschauung, dass zur Beurtheilung krankhafter Geisteszustände mehr der Philosoph als der Arzt berufen sei. Erst die Errichtung besonderer Anstalten für Geisteskranke unter ärztlicher Aufsicht begann allmählich die Entwicklung einer wirklich wissenschaftlichen Betrachtungsweise des Irreseins anzubahnen. Wenn wir von vereinzelten Vorläufern absehen, so giebt es erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wirkliche Irrenärzte. Seit jener Zeit hat sich die Psychiatrie trotz gewaltiger innerer und äusserer Schwierigkeiten überraschend schnell zu einem kräftigen Zweige der medicinischen Wissenschaft fortentwickelt.

Allerdings waren, namentlich bei uns in Deutschland, zunächst noch schwere Kämpfe zu überstehen. Zwar hatte der auf die Autorität der Bibel sich stützende Besessenheitsglaube bereits seine Macht verloren, wenn er auch heute noch hier und da im Verborgenen zu blühen scheint. Dagegen entstand der jungen psychiatrischen Wissenschaft, wie sie damals gerade von Esquirol an der Hand einer reichen klinischen Erfahrung begründet wurde, ein gefährlicher Feind in den moraltheologischen Auffassungen des Irreseins, die in den letzten Jahrzehnten unsereres Jahrhunderts von Heinroth, Benke u. A. in die Lehre des Irreseins hineingetragen wurden. Nach diesen Anschauungen sollte die Geistesstörung wesentlich eine Folge der Sünde sein, welche durch eigene Verschuldung Gewalt über den Menschen gewinne und am Ende Leib und Seele verderbe. Gegen diese und ähnliche, mit grossem Scharfsinn ausgeklügelten Anschauungen kämpfen mit den Waffen der naturwissenschaftlichen Forschung die „Somatiker“, an ihrer Spitze Nasse und Jakobi, welche das Irresein für den Ausdruck körperlicher Störungen erklärten.

Ihnen ist es gelungen, Sieger zu bleiben. Was noch vor sechzig bis siebzig Jahren mühsam erstritten werden musste, ist heute die selbstverständliche Grundlage unserer Wissenschaft geworden. Niemand wagt es mehr, zu bezweifeln, dass Geistesstörungen Krankheiten sind, die der Arzt zu behandeln hat. Wir wissen jetzt, dass wir in ihnen nur die psychischen Erscheinungsformen mehr oder weniger feiner Veränderungen im Gehirne, insbesondere in der Rinde des Grosshirns, vor uns haben. Mit dieser Erkenntniss hat die Psychiatrie bestimmte, klare Ziele gewonnen, denen sie mit den Hülfsmitteln und nach den Grundsätzen naturwissenschaftlicher Forschung entgegenstrebt. Vor allem wird uns die Beobachtung am Krankenbette eine möglichst umfassende und eingehende Kenntniss der klinischen Krankheitsformen zu liefern haben. Wir müssen lernen, aus der fast unübersehbaren Mannigfaltigkeit der Einzelerfahrungen nach und nach das Regelmässige und Wesentliche herauszuschälen und auf diese Weise zu einer Abgrenzung und Gliederung der zusammengehörigen Beobachtungsreihen zu gelangen.” (Ende des Zitats)

aus:

Emil Kraepelin, Psychiatrie, Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte, Sechste Auflage (1899), 1. Band. Allgemeine Psychiatrie, Mit einer Einführung von Paul Hoff, Seite 1 – 3,  Nachdruck, Arts & Boeve Verlang, Niederlande, ISBN 90 75341 16 4

Anmerkung zum Zitat:

Zweifelsohne entstehen die psychischen Erscheinungen als Folge der neuronalen Funktion des Gehirns. Insofern Kraepelin jedoch geglaubt hat, dass man die psychischen Erscheinungsformen auf Basis der Veränderungen im Gehirne nach den Grundsätzen der naturwissenschaftlichen Forschung erkennen und daher auf dieser Basis wird diagnostizieren können – hat Kraepelin sich getäuscht.

Emil Kraepelin hat offenbar den großen Unterschied zwischen einer faktischen Einheit und einer systematischen Einheit nicht erkannt (vgl. mit Kant Zitat 7).

Es hatte Emil Kraepelin offenbar nicht realisiert, dass psychische Erscheinungen/psychische Phänomene und damit psychische Krankheiten/psychische Störungen nur durch die Begriffe der Ideen (vgl. mit Kant Zitat 7) bzw. nur durch die Schemata der Ideen in Bezug auf (definierte) Typen erkennbar sind (vgl. mit Jaspers Zitat).

Auch Wilhelm Griesinger hatte geglaubt, dass man in Zukunft gewisse psychische Krankheiten auf der Grundlage der anatomischen Veränderungen des Gehirns wird erkennen können, dabei hatte Wilhelm Griesinger allerdings richtig erkannt, dass derzeit die psychischen Krankheiten nur auf Grundlage der psychischen Anomalie und daher nur psychologisch (bzw. in heutiger Terminologie nur psychopathologisch) erkennbar sind (vgl. mit Griesinger Zitat).

Im Gegensatz zu Emil Kraepelin und Wilhelm Griesinger  hat der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers den Unterschied in der Erkenntnisbasis und deswegen auch, die für die Psychiatrie daraus resultierenden Konsequenzen erkannt. (vgl. mit Jaspers Zitat und den anderen Jaspers Zitaten)

Insofern die Psychiatrie der Gegenwart also glaubt die psychiatrische Wissenschaft, so wie die medizinische Wissenschaft begründen zu können, bemüht sie sich vergeblich und man wird weiterhin noch zuwarten müssen bis sie sich in dieser Hinsicht völlig erschöpft und nicht mehr nach der Objektivierung von psychiatrischen Diagnosen strebt. Man wird also noch zuwarten müssen bis die Psychiatrie den Unterschied in der Erkenntnisbasis im psychiatrischen Wissen gegenüber dem in weiten Bereichen der Medizin objektivierbaren Wissen erkennt und anerkennt (vgl. mit Kant Zitat 7).

Mit Bezug auf Jaspers kann man sagen, die Psychiatrie wird zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie in der psychiatrischen Diagnostik ihr Wissen bezüglich der psychischen Störungen nur durch die klinischen Erscheinungen in Bezug auf (definierte) Typen (vgl. mit Jaspers Zitat ) erlangen kann, wohingegen in der Medizin in vielen Fällen das Wissen auf Grundlage von objektiven Befunden durch die Zugehörigkeit zu Gattungen bestimmt werden kann.

Man kann in der Psychiatrie das Wissen also nur auf Grundlage von Ideen – und zwar nur auf Grundlage von bloßen Ideen erlangen. Daher schreibt Jaspers zu recht, dass ich das Ganze als Idee nicht geradezu erkennen kann, sondern ich mich dem Ganzen durch das Schema der Idee nur nähern kann (vgl. mit Jaspers Zitat).

Mit nochmals anderen Worten: in der Psychiatrie kann man in Bezug auf psychische Phänomene und psychische Symptomenkomplexe durch Ideen nur subjektiv gültiges Wissen erlangen, hingegen in der Medizin auf Basis von körperlichen Fakten bzw. auf Basis von faktischen Befunden in vielen Fällen objektiv gültiges und damit allgemein gültiges Wissen.

Im Hinblick auf die Basis des Wissens wird also klar, dass sich das Wissen in der Psychiatrie immer auf Ideen bzw. auf die Begriffe der Ideen gründet, wohingegen in der Medizin das Wissen oftmals durch Fakten begründet ist (vgl. mit Kant Zitat 7). Das heißt psychiatrisches Wissen beruht auf systematischen Einheiten, hingegen medizinisches Wissen in vielen Fällen auf faktischen Einheiten.

Vorhersehbar wird es der Psychiatrie als Wissenschaft daher nicht gelingen nach den Grundsätzen naturwissenschaflicher Forschung die Basis der psychiatrischen Wissenschaft zu begründen. Vorhersehbar kann sich die psychiatrische Wissenschaft nicht zu einem kräftigen Zweig der medicinischen Wissenschaft fortentwickeln.

Vorhersehbar wird also Karl Jaspers recht behalten, wenn er schreibt: Die Idee der Krankheitseinheit läßt sich in irgendeinem einzelnen Fall niemals verwirklichen. (vgl. mit Jaspers Zitat 6)

Und vorhersehbar wird auch Immanuel Kant recht behalten, insofern er sinngemäß schreibt, dass zur Beurtheilung krankhafter Geisteszustände philosophische Methoden zum Ziel führen und nicht medizinisch-ärztliche Methoden.

Wie man sich überzeugt trifft dies auf die psychiatrische Praxis und die psychiatrische Wissenschaft zu, insofern psychische Störungen – und hier auch die psychische Störung vom Typ einer Schizophrenie – durch psychische Phänomene bzw. psychopathologische Phänomene und damit durch psychiatrische Ideen und nicht durch körperliche Befunde bzw. nicht durch biologische Befunde diagnostiziert werden (vgl. mit Kant Zitat 7).

Letztlich wird also die Psychiatrie als Wissenschaft nicht umhin kommen sich wieder mit der philosophischen Basis ihres Wissens zu befassen – wenn sie eine im Sinn der Aufklärung aufgeklärte Wissenschaft sein will. (vgl. mit Kant Zitat 10)

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(letzte Änderung 30.12.2019, abgelegt unter Zitate, Psychiatrie, Diverses)

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Weiteres zu dieser Thematik in meinem Buch:

Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

erschienen im April 2019 im Verlag tredition

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