Kraepelin Zitat 6 : Differenzialdiagnose

Emil Kraepelin (1856 – 1926) schreibt in seinem Lehrbuch (6. Auflage, 1899) nachfolgendes im Vorwort:

                    „Vorwort zur sechsten Auflage.

Der Fortschritt unserer in raschem Flusse befindlichen klinischen Anschauungen hat auch in der vorliegenden Auflage dieses Buches eine ganze Reihe von Umwälzungen und Neubearbeitungen nothwendig gemacht. Im allgemeinen Theile ist namentlich die Lehre von den Erscheinungen des Irreseins vielfach erweitert worden; freilich tritt dadurch nur immer klarer hervor, wie viel hier noch zu thun ist. Von den klinischen Gruppen sind die Dementia praecox, das manisch-depressive Irresein, das  infectiöse Irresein zum grössten Theile neu geschrieben, aber auch an zahlreichen anderen Punkten wird man mehr oder weniger einschneidende Aenderungen und Zusätze finden. Möglichst eingehend wurde überall die Differentialdiagnose behandelt.

Trotz dieser Umgestaltungen freue ich mich, aussprechen zu können, dass die wesentlichen Grundlagen des klinischen Lehrgebäudes unverändert geblieben sind, da sie sich mir, je länger, je mehr, wissenschaftlich wie praktisch als durchaus brauchbar und zuverlässig erwiesen haben. So lange nichts Besseres an die Stelle zu setzen ist, werden Forscher wie Lernende immerhin mit dieser Betrachtungsweise arbeiten können. Der Umfang des Buches hat mich veranlasst, dasselbe in zwei Theile zu zerlegen. Die Tafeln sind zum Theile durch neue ersetzt worden, deren Urbilder ich, wie schon früher, zumeist Nissl verdanke. Durch das Entgegenkommen des Herrn Verlegers ist es möglich gewesen, alle mikroskopischen Bilder auf dem kostspieligen Wege des photographischen Verfahrens wiederzugeben.

Heidelberg, den 4. Oktober 1898                           E. Kraepelin.“

aus:

Emil Kraepelin, Psychiatrie, Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte, Sechste Auflage (1899), 1. Band. Allgemeine Psychiatrie, Mit einer Einführung von Paul Hoff, Einleitung Seite III -VI,  Nachdruck, Arts & Boeve Verlang, Niederlande, ISBN 90 75341 16 4

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Anmerkung zum Zitat:

Aus dem Zitat ist ersichtlich, dass Emil Kraepelin zuversichtlich war, dass man in der Psychiatrie in absehbarer Zeit – so wie in der Medizin – wird allgemein gültig unterscheiden können welche Differenzialdiagnose zutreffend ist. Es hat Emil Kraepelin nämlich geglaubt, dass man bei gewissen psychischen Krankheiten gesetzmäßige Beziehungen zwischen dem körperlichen und psychischen Geschehen finden wird (vgl. mit Kraepelin Zitat 5).

Tatsächlich kann man in der Psychiatrie jedoch keine solchen gesetzmäßigen Beziehungen finden. Dies ist wegen des großen Unterschieds zwischen den Erkenntnisobjekten grundsätzlich nicht möglich (vgl. mit Kant Zitat 7). In der Psychiatrie kann man die psychischen Erscheinungen/psychischen Phänomene nur auf der Ebene der Ideen und daher nur subjektiv gültig erkennen und bestimmen (vgl. mit Kant Zitat 7). Man kann in der Psychiatrie nur auf der Ebene der Ideen durch das Vergleichen der Ideen bzw. durch das Vergleichen der Begriffe der Ideen subjektiv gültig erkennen und entscheiden welchem Typus ein klinisches Erscheinungsbild zuzuordnen ist.

Man kann in der Psychiatrie nicht so – wie dies in der Medizin auf Grundlage von objektiven Befunden in vielen Fällen möglich ist – die Idee auf ein Objekt/Faktum zurückführen und damit die  Vorstellung objektiv gültig überprüfen bzw. damit allgemein gültig entscheiden welche Idee und damit welche Diagnose zutreffend ist. Mit anderen Worten: man kann in der Psychiatrie nicht, so wie dies in der Medizin in vielen Fällen möglich ist, allgemein gültig entscheiden was zutreffend ist (vgl. mit Kant Zitat 7).  Man kann in der Psychiatrie nicht so wie es in der Medizin in vielen Fällen möglich ist allgemein gültig bzw. objektiv gültig prüfen welche Verdachtsdiagnose zutreffend ist, falls mehrere Differenzialdiagnosen als mögliche Diagnosen in Frage kommen.

Emil Kraepelin hat sich getäuscht als er geglaubt hat, dass man gesetzmäßige Beziehungen zwischen dem körperlichen und seelischen Geschehen (vgl. mit Kraepelin Zitat 5 und mit Kraepelin Zitat 8). Dies ist grundsätzlich nicht möglich, weil ein körperlicher Befund – soweit er vorgezeigt, und damit allgemein gültig demonstriert werden kann, auf einer faktischen Einheit beruht, hingegen ein Befund, der ein klinisches Erscheinungsbild – oder in den Worten von Kraepelin ein klinisches Krankheitsbild (vgl. mit Kraepelin Zitat 8) – erfasst, nur durch den Begriff der Idee erkannt werden kann, der eine systematische Einheit (vgl. mit Kant Zitat 7) ist.

Daher hat Emil Kraepelin sich getäuscht, als er geglaubt hat, dass man in Zukunft etwa die Einheit Dementia praecox wird allgemein gültig bestimmen können (vgl. mit Kraepelin Zitat 1).

Anmerkung: bekanntlich ist aus der diagnostischen Einheit Dementia praecox einige Zeit später die diagnostische Einheit Schizophrenie hervorgegangen, die Eugen Bleuler als psychiatrische Einheit  in Abgrenzung zu anderen psychiatrischen Einheiten in seinem Lehrbuch im Hinblick auf die Diagnostik beschrieben und dadurch definiert hat (vgl. mit Bleuler Zitat 2).

Im Gegensatz zu Emil Kraepelin hat Karl Jaspers richtig erkannt hat, dass man in der Psychiatrie die psychischen Erscheinungen und daher die psychischen Phänomene nur durch Ideen erkennen und unter der Führung von Ideen in der psychiatrische Diagnostik bestimmen kann (vgl. mit Jaspers Zitat). Es schreibt Jaspers sinngemäß daher, dass die psychiatrischen Einheiten in Bezug auf definierte Typen durch die Schemata der Ideen angenähert erkannt werden (vgl. mit Jaspers Zitat).

Karl Jaspers hat also den großen Unterschied zwischen den Erkenntnisobjekten (vgl. mit Kant Zitat 7) erkannt, wenn er in seinem Buch: Allgemeine Psychopathologie zwischen einer Gattung und einem Typ unterscheidet und in diesem Zusammenhang schreibt: Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm – mit Kants Worten – durch das “Schema” der Idee (vgl. mit Jaspers Zitat).

Im Gegensatz dazu hat Emil Kraepelin den großen Unterschied zwar bemerkt, aber nicht richtig erkannt und auch nicht richtig interpretiert.*

Weil es den großen Unterschied zwischen den Erkenntnisobjekten gibt, kann man auch in der Medizin einen Teil der gesundheitlichen Störungen (Krankheiten) und damit die zugehörigen medizinische Diagnosen – so wie in der Psychiatrie die psychiatrischen Diagnosen – nicht allgemein gültig bestimmen respektive nicht allgemein gültig überprüfen (Beispiel: ob etwa die neurologische Diagnose: Migräne oder die neurologische Diagnose Spannungskopfschmerz zutreffend ist). Man kann also in der Praxis und Wissenschaft in einem derartigen Fall nicht physisch überprüfen, ob eine solche medizinische Diagnose, die ebenfalls eine phänomenologische Diagnose ist, zutreffend ist. Sprich, man kann diese medizinischen Diagnosen und damit auch die entsprechenden Differenzialdiagnosen und somit auch die entsprechenden Verdachtsdiagnosen nicht objektivieren.

Dies trifft grundsätzlich auch auf alle psychiatrischen Diagnosen zu. In der Psychiatrie kann man keine einzige psychische Störung und damit keine einzige psychiatrische Diagnose auf ein Faktum bzw. auf eine faktische Einheit zurückführen und damit die Diagnose allgemein gültig bestimmen.

Dies ist grundsätzlich nicht möglich, weil eine solche diagnostische Einheit auf Grundlage einer Idee (vgl. mit Jaspers Zitat) und zwar auf Grundlage einer Idee im Kantischen Sinne (vgl. mit Jaspers Zitat 6) erkannt wird – womit Jaspers ein bloße Idee meint, ohne diesen Begriff zu verwenden.

Man kann auch sagen: weil man eine psychische Störung und damit eine psychiatrische Diagnose auf der Grundlage eines psychiatrischen Konzepts erkennt, kann die psychiatrische Diagnose niemals physisch überprüft werden. (vgl. mit Jaspers Zitat 6)

Man ist in Psychiatrie – also so wie in der Psychologie – mit Ideen befasst, die nicht auf der Ebene der Objekte bzw. die nicht auf der Ebene des Körpers überprüft werden können (vgl. mit Kant Zitat 4).

In der Erkenntnisbasis findet sich also der tiefer liegende Grund warum man in der Medizin zum Teil die diagnostischen Erkenntnisse und in der Psychiatrie sämtliche diagnostischen Erkenntnisse nicht „physisch“ überprüfen kann.

Weiteres dazu auf der PDF Datei (Power Point Präsentation der Folien des freien Vortrags gehalten am DGPPN Kongress 2013 in Berlin zum Thema:

Die psychiatrische Diagnostik aus der Sichtweise von Emil Kraepelin im Vergleich zur Sichtweise von Karl Jaspers – eine Untersuchung auf der Grundlage der “Kritik der reinen Vernunft” von Immanuel Kant

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Weiteres* zur Sichtweise von Emil Kraepelin und Karl Jaspers in in meinem Buch:

Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

erschienen im April 2019 im Verlag tredition

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(letzte Änderung, 09.12.2019,  abgelegt unter Zitate, Diagnostik, Psychiatrie, psychiatrische Wissenschaft)

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