„Vorwort zur ersten Auflage
Dieses Buch will einen Überblick über das Gesamtgebiet der allgemeinen Psychopathologie, über die Tatsachen und Gesichtspunkte dieser Wissenschaft, geben; und es will dem Interessierten weiterhin einen Zugang zur Literatur eröffnen.
Statt dogmatisch behauptete Resultate darzustellen, möchte es vorwiegend in die Probleme, Fragestellungen, Methoden einführen; statt ein System auf Grund einer Theorie möchte es eine Ordnung auf Grund methodologischer Besinnung bringen.
In der Psychopathologie gibt es eine Reihe von Betrachtungsweisen, eine Reihe von Wegen nebeneinander, die in sich berechtigt sind, sich ergänzen, aber sich gegenseitig nicht stören. Auf Sonderung dieser Wege, auf reinliche Scheidung, ebenso wie auf die Darstellung der Vielseitigkeit unserer Wissenschaft waren meine Bemühungen gerichtet.
Es wurde der Versuch gemacht, allen empirisch fundierten Richtungen, allen psychopathologischen Interessensgebieten ihren Platz anzuweisen, um dem Leser – soweit irgend möglich – einen wirklichen Überblick über die gesamte Psychopathologie, nicht über eine bloß persönliche Meinung, eine Schul- oder Modeströmung zu verschaffen.
In vielen Teilen waren einfach registrierende Aufzählungen bisher konstatierter, noch zusammenhangloser Tatsachen und einzelner bisher nur tastender Versuche nicht zu umgehen. Es ist jedoch gefährlich, in der Psychopathologie einfach nur den Stoff zu lernen: man muß nicht Psychopathologie, sondern psychopathologisch beobachten, psychopathologisch fragen, psychopathologisch analysieren, psychopathologisch denken lernen. Ich möchte dem Studierenden helfen, sich ein geordnetes Wissen anzueignen, das bei neu beobachteten Phänomenen den Anknüpfungspunkt bietet, und das ihm ermöglicht, neu zu erwerbendes Wissen an seinen gehörigen „Ort“ zu stellen.
Heidelberg, April 1913 Karl Jaspers.“
aus:
Karl Jaspers: „Allgemeine Psychopathologie“, 9. unveränderte Auflage, Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1973, Seite III, ISBN 3-540-03340-8, ISBN 0-387-03340-8
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Anmerkung zum Zitat: In der Psychiatrie ist es – wie Karl Jaspers schreibt – gefährlich wenn man glaubt, dass man den Stoff lernen kann.
Es ist also nicht möglich einfach ein System anzuwenden, wie es im AMDP-System (= System zur vermeintlich standardisierten Erfassung und Dokumentation eines psychopathologischen Befundes) definiert worden ist. Durch die Anwendung eines solchen Systems kann man eine psychische Störung nicht angemessen erkennen und in der psychiatrischen Diagnostik bestimmen.*
Man täuscht sich in der Psychiatrie (und in der Psychologie), wenn glaubt psychische Phänomene, so wie körperliche Fakten bzw. wie faktische Befunde erfassen zu können um auf diesem Weg die normale Funktion der Psyche oder die krankheitswertige Störung der Psyche bzw. die psychische Störung und damit die psychiatrische Diagnose verlässlich, also reliabel (verlässlich) und valide (= gültig) zu bestimmen – so wie dies in der Medizin bei vielen medizinischen Diagnosen möglich ist.
In einem Teilbereich der Medizin kann man tatsächlich verlässlich, weil objektiv gültig die medizinischen Diagnosen bestimmen. In der Psychiatrie ist dies grundsätzlich nicht möglich, man muss hier auf Grundlage der klinischen Erscheinungen bzw. auf Grundlage der klinischen Erscheinungsbilder (der psychischen Störungen) – oder man kann auch sagen: auf Grundlage der psychopathologischen Phänomene – unter Berücksichtigung der Gesichtspunkte psychopathologisch Denken lernen – Jaspers treffend schreibt um den Sachverhalt angemessen zu erkennen.
Man täuscht sich, wenn man glaubt, dass die psychiatrische Wissenschaft eine Wissenschaft wie die medizinische Wissenschaft ist, die in vielen Fällen die gesundheitlichen Störungen (Krankheiten) des Körpers allgemein gültig bestimmen kann.
Wegen der ganz anderen Basis des psychiatrischen Wissens im Vergleich zum objektiv bestimmbaren Wissen in der Medizin ist dies grundsätzlich nicht möglich.
Besonders deutlich wird der große Unterschied im Wissen, falls es sich um einen diagnostischen Grenzfall handelt.
In der Psychiatrie kann man eine psychische Störung nur auf der Grundlage einer Idee durch das Schema der Idee in Bezug auf den definierten Typus (vgl. mit Jaspers Zitat) und daher nur subjektiv gültig erkennen und in der psychiatrischen Diagnostik bestimmen, wohingegen in der medizinischen Diagnostik eine objektiv bestimmbare körperliche Krankheit (und auch eine objektiv bestimmbare gesundheitliche Störung des Körpers) infolge der Zugehörigkeit zu einer Gattung objektiv gültig und daher allgemein gültig bestimmt werden kann.
Es handelt sich beim psychopathologischen Denken und damit beim psychiatrischen Denken um ein psychopathologisch begründetes Denken. Es ist dies also ein ganz anderes Denken als in dem Teilbereich der Medizin, in dem man die Erkenntnisse auf Grundlage von objektiven Befunden durch faktische Einheiten erkennt und in der medizinischen Diagnostik bestimmt. In der Psychiatrie können die normalen und die abnormen psychischen Phänomene nur durch die systematische Einheit der Idee bzw. nur durch den Begriff der Idee (vgl. mit Kant Zitat 7) von der Fachperson erkannt werden.
Im Beitrag Grenzfall wird dies am Beispiel des Falls des Anders Behring Breivik aufgezeigt und diskutiert und man erkennt hier den großen Unterschied zwischen einer nur subjektiv gültig bestimmbaren psychiatrischen Diagnose im Vergleich zu einer objektiv bestimmbaren medizinischen Diagnose und es wird damit deutlich welche Konsequenzen zum Beispiel für die Forensische Psychiatrie sich aus diesem Sachverhalt ergeben, wie dies aus der Erkenntnisbasis resultiert.
Weiteres* zur Thematik auf Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant in meinem Buch:
Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin
erschienen im April 2019 im Verlag tredition
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(letzte Änderung 22.11.2022, abgelegt unter: Diagnostik, medical diagnostics / psychiatric diagnostics, Psychiatrie, Psychopathologie, Zitate)
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„AUTHOR´S PREFACES
To the first edition (1913)
This book sets out to survey the entire field of general psychopathology and the facts and viewpoints of this science. It also sets out to be a guide to the literature for all those who are interested.
Instead of presenting dogmatic statements of results, it prefers to introduce the reader to problems, approaches and and methods, and instead of a system base on a theory, would like to achieve some kind of order based on a deliberate methodology.
There are in psychopathology a number of viewpoints, a number of parallel approaches which in themselves are quite justifiable and complement rather than oppose each other. My efforts have been directed towards sorting these approaches out, separating them clearly and at the same time demonstrating the many-sided nature of our science. An attempt has been made to include every empirically- based approach and every field of psychopathological interest, so that as far as possible the reader may gain a really comprehensive view of psychopathology as a whole and not merely be presented with a personal opinion, a particular school or a set of ideas that happens to be in vogue.
In many parts of the book we have had simply to record and enumerate facts so far available, data still lacking in context and experiments that are as yet tentative. But in psychopathology it is dangerous merely to learn the matter, our task is not to „learn psychopathology“ but to learn to observe, ask questions, analyse and think in psychopathological terms. I would like to help the student to acquire a well-ordered body of knowledge, which will offer a point of departure for new observations and enable him to set freshly acquired knowledge in its proper place. “
Jaspers Karl, General Psychopathology, Volume I, translated from the German by J. Hoenig and Marian W. Hamilton with a new foreword by Paul R. McHugh, The Johns Hopkins University Press edition, 1997, page XIIX
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