Psychiatrische Wissenschaft

Die psychiatrische Wissenschaft ist die Wissenschaft die die psychischen Störungen in der Psychiatrie systematisch studiert.

Dabei werden die psychischen Störungen in der psychiatrischen Diagnostik systematisch erfasst und gemäß den psychiatrischen Kategorien in der psychiatrischen Klassifikation systematisch klassifiziert.

Weil die psychiatrische Diagnostik und ebenso die psychiatrische Klassifikation auf der klinischen Erscheinung der psychischen Störungen beruhen bzw. auf den psychischen Symptomenkomplexen – ist die psychiatrische Wissenschaft eine Wissenschaft, die sich auf die  Phänomenologie bzw. auf die Psychopathologie gründet.

Man kann in der Psychiatrie die psychischen Störungen also nur aufgrund der krankheitswertigen Erscheinungen der Psyche systematisch erfassen, klassifizieren und in der Wissenschaft systematisch studieren.

Daher kann man auch sagen, dass die psychiatrische Wissenschaft eine Wissenschaft ist die sich auf die psychopathologischen Phänomene gründet, wie diese bei den unterschiedlichen psychischen Störungen vorkommen.

Ebenso kann man sagen, dass die psychiatrische Wissenschaft die empirische Wissenschaft ist die die unterschiedlichen psychischen Störungen auf Grundlage der verschiedenen klinischen Erscheinungsbilder systematisch diagnostiziert und klassifiziert um dadurch durch das systematische Studium wissenschaftlich basierte Erfahrungen zu sammeln – die dann in der Therapie des konkreten Falles in der Therapie genützt werden können.

Daher nimmt das Wissen in der psychiatrischen Wissenschaft von psychischen- bzw. von psychopathologischen Phänomenen seinen Ausgang, die im Bewusstsein der erkennenden Fachperson/Psychiater/Psychiaterin in Form der Begriffe der Ideen als systematische Einheiten erscheinen (vgl. mit Kant Zitat 7).

Es entsteht das Wissen in der Psychiatrie als Wissenschaft also empirisch begründet primär durch die klinische Erscheinung der jeweiligen psychischen Störung. Das bedeutet: man kann in der Psychiatrie das Wissen um die psychischen Störungen nicht durch biologische Befunde bzw. nicht durch faktische Befunde gewinnen und bestimmen.

Beziehungsweise kann man in der Psychiatrie das Wissen um die psychischen Störungen nicht durch objektiv feststellbare Tatsachen gewinnen, die uns auf Grundlage der Störung der Nervensystems in der Form von natürlichen Phänomenen bzw. Erscheinungen gegeben sind, sondern nur auf Grundlage von Ideen durch die die krankheitswertigen Erscheinungen der Psyche bzw. die klinischen Erscheinungsbilder der psychischen Störungen systematisch durch die systematische Einheiten der (psychiatrischen) Ideen erfasst werden (vgl. mit Kant Zitat 7).

Damit ist die Psychiatrie und somit auch die psychiatrische Wissenschaft eine Wissenschaft, die auf empirisch entwickelten psychiatrischen Ideen beruht.

Dabei sind diese fachlichen Ideen in der Klinik bzw. in der psychiatrischen Praxis durch das  psychiatrische Denken entstanden, wie es von in der Psychiatrie tätigen Fachärzten entwickelt worden ist (vgl. mit Pinel Zitat 2).

Es hatten nämlich in der Zeit der Aufklärung mit psychisch Kranken befasste Ärzte erkannt, dass es sich bei gewissen psychischen Auffälligkeiten nicht um moralische Verirrungen oder um Obsessionen, sondern um psychische Krankheiten (psychische Störungen) handelt und es ist in diesem Zusammenhang der französische Arzt Philippe Pinel berühmt geworden, der erste psychische Symptomenkomplexe beim Wahnsinn bzw. bei der Manie beschrieben hat (vgl. mit Pinel Zitat 1)  und der die psychisch Kranken von den Ketten befreit hat.

Wie später der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers auf Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant realisiert hat, wird das fachliche Wissen in der Psychiatrie durch die denkende Anschauung unter Führung von Ideen gewonnen (vgl. mit Jaspers Zitat).

Es beruht das empirische Wissen in der Psychiatrie nämlich auf Ideen die durch die Schemata der Ideen erkannt werden (vgl. mit Jaspers Zitat). Dadurch wird der jeweilige Typ der psychischen Störung erkannt, wohingegen in der Medizin in einem großen Bereich das empirische Wissen in Bezug auf gesundheitliche Störungen bzw. Krankheiten auf der Grundlage der Zugehörigkeit zu Gattungen gewonnen wird.

Damit wird deutlich warum das Methodenbewusstsein in der Psychiatrie und in der psychiatrischen Wissenschaft so wesentlich ist – worauf Karl Jaspers hingewiesen hat.

Genau genommen findet man, dass die Psychiatrie eine  empirische Wissenschaft ist, die auf empirisch entwickelten bloßen Ideen beruht, die in der Psychiatrie tätige Ärzte auf Grundlage ihrer klinischen Erfahrung durch vernünftige Überlegung – somit auf der Grundlage ihres fachlichen Verstandes und durch ihre (reine) Vernunft (vgl. mit Kant Zitat 10 , Kant Zitat 4 und Kant Zitat 8a) – erkannt haben und die sie in weiterer Folge in der psychiatrischen Praxis und Klinik weiter entwickelt haben.*

Man kann daher berechtigt sagen, dass die Struktur der Psychiatrie auf einer empirisch entwickelten Ideenlehre beruht, die in der Psychiatrie tätige Ärzte durch den klinischen Beobachtungsgeist, die aphoristische Sprache und die Methode der Classifikation entwickelt haben – wobei diese Methode der französische Arzt Philippe Pinel im Prinzip erkannt und realisiert hat (vgl. Pinel Zitat 2).

Weil psychiatrisches Wissen auf physisch nicht überprüfbaren Ideen beruht, ist psychiatrisches Wissen nur subjektiv gültiges Wissen. Das heißt psychiatrisches Wissen ist subjektives Wissen und nicht objektives Wissen.

Es nimmt das Wissen in der psychiatrischen Wissenschaft also den Ausgang von subjektivem Wissen  (vgl. mit Kant Zitat 9).

Im Gegensatz dazu basiert das Wissen in einem großen Bereich der Medizin und damit in einem großen Teilbereich der medizinischen Wissenschaft auf objektivem Wissen, wie dieses auf Grundlage von objektiven Befunden – in der „Natur“ nämlich auf der Ebene des Körpers gewonnen wird.

Methoden der psychiatrischen Wissenschaft:

Das Wissen in der psychiatrischen Wissenschaft wird durch zwei Methoden gewonnen. Entweder durch die Kasuistik, womit das Studium des einzelnen Falles gemeint ist.

Oder durch das Studium von vielen Fällen, die nach der Methode der Statistik (siehe dazu das WikiLink) studiert werden.

Dabei wird das psychiatrische Wissen durch eine geisteswissenschaftliche Methode, nämlich durch die Methode der Dialektik erlangt.

Das Wissen in Bezug auf die Psyche wird nämlich grundsätzlich durch den Gegensatz der Ideen (vgl. mit Jaspers Zitat 12) also durch das Ponderieren der Ideen (Immanuel Kant) – somit durch das Gewichten der Ideen erkannt.

Wie man sich überzeugt wird das psychiatrische Wissen in der psychiatrischen Praxis und auch in der psychiatrischen Wissenschaft dialektisch erlangt, wie dieses im Bewusstsein der erkennenden Fachperson in Form der Begriffe der Ideen durch das Erkennen der systematischen Einheiten erscheint (gr. phenomenon – das was erscheint, das Erscheinende) (vgl. mit Kant Zitat 7).

Wie Jaspers in seinem Buch „Allgemeine Psychopathologie“ schreibt, kann ich dabei das Ganze als Idee nicht gerade zu erkennen, sondern ich kann mich dem Ganzen als Idee durch das Schema der Idee nur nähern (vgl. mit Jaspers Zitat).

Man kann also in der Psychiatrie die verschiedenen psychischen Störungen und damit die zugehörigen psychiatrischen Diagnosen nur durch Ideen erkennen, die man auf die psychischen Auffälligkeiten anwendet. Es können somit die psychischen Störungen nur durch psychiatrische Konzepte erkannt werden, die man in der psychiatrischen Praxis und in der psychiatrischen Wissenschaft auf die psychischen Auffälligkeiten projiziert. Durch biologische Befunde bzw. durch physische Befunde (etwa Laborbefunde, bildgebende Befunde, wie sie mit der Methode der Computertomographie, Magnetresonanztomographie, Funktionelle Magnetresonanztomographie, Befunde der Genetik usf.) gewonnen werden, kann man manch eine psychische Störung zwar erklären und sie damit besser verstehen, aber in der psychiatrischen Diagnostik bestimmen kann man sie dadurch nicht! Daher sind diese Befunde Zusatzbefunde und haben die biologischen Theorien, wie sie in der biologischen Psychiatrie entwickelt worden sind, nur den Wert einer Erläuterung bzw. den Wert einer Erklärung. Hingegen kann das Fundament der psychiatrischen Wissenschaft darauf nicht aufgebaut werden. Vielmehr bilden die Phänomenologie und die Psychopathologie das wissenschaftliche Fundament der Psychiatrie und damit auch dasjenige der psychiatrischen Wissenschaft.

In der Psychiatrie und in der psychiatrischen Wissenschaft kann die jeweilige psychische Störung also nach wie vor nur durch die aphoristische Sprache und die Methode der Classifikation (Philippe Pinel) erkannt werden. Oder in Worten von Wilhelm Griesinger : man kann eine psychische Störung nur psychologisch (bzw. psychopathologisch) durch die psychische Anomalie  erkennen (vgl. mit Griesinger Zitat) – oder mit Worten von Karl Jaspers: man erkennt eine psychische Störung durch die denkende Anschauung unter Führung von Ideen (vgl. mit Jaspers Zitat).

Das Erkennen von gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den körperlichen Vorgängen und den psychischen Erscheinungsformen – wie Emil Kraepelin dies erwartet hat – ist wegen der Basis des psychiatrischen Wissens also grundsätzlich nicht möglich (vgl. mit Kraepelin Zitat 8). Und es kann sich daher die psychiatrische Wissenschaft nicht zu einem kräftigen Zweig der medicinischen Wissenschaft fortenwickeln – wie Emil Kraepelin dies erwartet hat (vgl. mit Kraepelin Zitat 2).

Zur psychiatrischen Kasuistik:

In der psychiatrischen Kasuistik studiert man den einzelnen Fall (lat. casus: „Fall“).

Man studiert die Besonderheiten im Hinblick auf die Psyche am einzelnen Fall und versucht diese entsprechend durch die Begriffe der psychopathologischen Phänomene in der psychiatrischen Diagnostik zu erfassen. Damit gelangt die psychiatrische Fachperson/Psychiater/Psychiaterin zum psychischen Befund bzw. zum psychiatrischen Befund und in weiterer Folge zur psychiatrischen Diagnose der psychischen Störung.

Zur psychiatrischen Wissenschaft die mit statistischen Methoden arbeitet:

In der psychiatrisch-statistischen Wissenschaft studiert man die gleichartigen Fälle und ermittelt Mittelwerte und anderes mehr. Dabei gründet sich dieses Wissen auf die gleichartigen psychischen Symptomenkomplexe und deren zeitliche Entwicklung, also auf deren Verlauf.

Man studiert in der psychiatrischen Wissenschaft wie sich z. B. sich die Einnahme einer bestimmten psychoaktiven Substanz – ein bestimmtes Psychopharmakon – auf Patienten mit einer gewissen psychischen Störung auswirkt, wobei diese Patienten zuvor durch eine gewisse psychiatrischen Kategorie in der psychiatrischen Diagnostik, so zum Beispiel gemäß der psychiatrischen ICD-10 Klassifikation erfasst worden sind.

Oder es sind diese Patienten in der psychiatrisch-wissenschaftlichen Studie gemäß einer psychiatrischen Kategorie der DSM-V Klassifikation oder früher gemäß der DSM-IV Klassifikation diagnostisch erfasst worden.

Oder man studiert in der Psychiatrie auf statistischem Wege die Anwendung einer psychotherapeutischen Methode (z.B. die der Verhaltenstherapie) wie sich diese im Vergleich zu einer anderen psychotherapeutischen Methode bei Vorliegen einer gewissen psychischen Störung auswirkt usf.

Im Gegensatz zur medizinischen Wissenschaft studiert man in der  psychiatrischen Wissenschaft also die psychischen Erscheinungen und die Auswirkungen der Therapiemaßnahmen auf die klinischen Erscheinungsbilder, wohingegen man in der körperlichen Medizin vorwiegend die Auswirkungen von Therapiemaßnahmen und Medikamenten auf den Körper bzw. auf die körperliche Funktion studiert und dabei die Auswirkungen auf die Psyche nicht primär beachtet und berücksichtigt werden.

Nachfolgend werden einige psychische Störungen genannt, die in der psychiatrischen Wissenschaft systematisch studiert werden:

Depression (depressive Störung)

Schizophrenie

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung)

Alzheimerkrankheit (Alzheimerdemenz) und sonstige Formen der Demenz

Organisches Psychosyndrom (OPS)

usf.

Ist die Psychiatrie eine Wissenschaft?

Ja, die Psychiatrie ist eine Wissenschaft, insofern sie ihr Wissen nach einer gewissen Methode und somit nach einem gewissen System bzw. nach einer gewissen Systematik empirisch erlangt. Allerdings findet man, dass die psychiatrische Systematik anders aufgebaut ist als die medizinische Systematik.

Und es ist daher auch die psychiatrische Wissenschaft eine ganz andere Wissenschaft als die medizinische Wissenschaft, wo diese ihr Wissen auf der Grundlage von physischen Befunden bzw. auf der Grundlage von biologischen Befunden erlangt.

Weil die Psychiatrie eine Wissenschaft ist, die ihr Wissen auf Grundlage von (definierten) Ideen erlangt, ist dies eine ganz andere Wissenschaft als die Medizin, wo diese ihr Wissen auf Basis von Fakten erlangt. Man kann in der Psychiatrie das Auftreten von gewissen psychischen Phänomenen und in weiterer Folge auch das Auftreten von gewissen psychischen Störungen zwar biologisch bzw. physisch erklären, aber die diagnostische Bestimmung einer krankheitswertigen Erscheinung der Psyche ist grundsätzlich nur psychisch bzw. nur psychopathologisch möglich. Dies hat zur Folge, dass die Psychiatrie keine Wissenschaft sein kann, die frei von Werten bzw. die frei von einer Bewertung der psychischen Erscheinungen ist (und sein kann) – und es ist daher wichtig, dass in der Psychiatrie die Grundlage des psychiatrischen Wissens kritisch reflektiert wird. In diesem Sinn wird ein in der Psychiatrie tätiger, aufgeklärter Arzt die Basis des psychiatrischen Wissens beachten und berücksichtigen und er wird daher nicht mit grundloser Anmaßung und mit Machtansprüchen auftreten, die einer kritischen Prüfung nicht standhalten (vgl. mit Kant Zitat 10).

Aus der Basis des psychiatrischen Wissens ergeben sich weitreichende Konsequenzen, die in eigenen Beiträgen weiter ausgeführt werden (-> Beitrag Konsequenzen, -> blog: Konsequenzen).

und

Weiteres* zur Psychiatrie als Wissenschaft in meinem Buch:

Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

veröffentlicht im Verlag tredition, April 2019.

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(letzte Änderung 27.11.2022, abgelegt unter: Wissenschaft, psychiatrische Wissenschaft, Definition, Diagnostik, Psychiatrie)

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weiter zum Beitrag: Zur Entstehung der Psychiatrie als Wissenschaft

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weiter zum Beitrag: Evidenz

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weiter zum Beitrag: Evidenz in der Psychiatrie

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weiter zum Beitrag: Valditität

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weiter zum Beitrag: Reliabiltät

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weiter zum Beitrag: Validierung

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weiter zum Beitrag: Metaanalyse

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weiter zum Beitrag: Operationalisierung

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weiter zum Beitrag: psychiatrisches Gutachten

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