Kahlbaum Zitat 2 : nicht bestimmbare Relation der Anatomie zur klinischen Pathologie in der Psychiatrie

„Unterdess hat sich auch die Richtung der psychiatrischen Studien nicht unwesentlich geändert und geklärt. Es gab eine Zeit, wo jede specielle psychiatrische Krankheitsbeobachtung, welche nicht mit einem ausführlichen anatomischen Detail schloss, scheel angesehen wurde.

Die mit so großem Kraftaufwande und mit dem schönsten Eifer unternommenen pathologisch-anatomischen Arbeiten haben ein sehr umfängliches und schätzbares Material zu Tage gefördert, aber sie haben die wesentlichen Anschauungen über die Genesis der psychischen Erkrankungen und über die anatomische Unterlage ihrer intra vitam so mannigfachen und wesentlichen Gestaltungen um nichts gefördert, und man kommt jetzt immer allgemeiner zu der Ansicht, dass erst die umfassende klinische Betrachtung der Krankheitsfälle das empirische Material nach der Methode der klinischen Pathologie ordnen und klären und so den psychiatrischen Boden für die weitere Durchdringung mit anatomischen Details vorbereiten muss.  Man hat nun erkannt, dass es ein ganz vergebliches Streben ist, eine Anatomie der Melancholie oder der Manie u. s. w. zu suchen, da jede dieser Formen unter den verschiedenartigsten Beziehungen und Verbindungen mit anderen Zustandsformen vorkommen, und ebensowenig an sich als wesentlicher Ausdruck des inneren Krankheitsprozesses anzusehen sind, als etwa der Symptomenkomplex Fieber oder die Sammelerscheinung Hydrops für bestimmte somatische Krankheiten als Ausdruck ihres charakteristischen Wesens oder ihres speziellen Sitzes anzusprechen sind.“

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aus der Einleitung (Seite IV)

KLINISCHE ABHANDLUNGEN ÜBER PSYCHISCHE KRANKHEITEN

VON

DR. KARL KAHLBAUM

1. Heft

DIE KATATONIE oder das Spannungsirresein,

Eine klinische Form psychischer Krankheit von Dr. Karl Kahlbaum, Director der Privat-Anstalt für Nerven- und Gemüts- Kranke in Görlitz, Berlin, 1874.

Verlag von August Hirschwald. Unter den Linden No. 68.

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mit einer neuen Einführung von Nicolaas Arts und Caroline Jagella,

Arts & Boeve Nijmegen, 2000

ISBN 90 75341 24 5

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Anmerkung zum Zitat: 

Aus dem Zitat ist ersichtlich, dass Karl Ludwig Kahlbaum den methodischen Mangel bzw. das Problem in der psychiatrischen Diagnostik bemerkt hat, insofern er darauf hinweist, dass es ein ganz vergebliches Streben ist, eine Anatomie der Melancholie oder der Manie u. s. w. zu suchen.

Daher fordert Kahlbaum zu Recht – im Sinne der Methodenbewusstheit von Karl Jaspers – die umfassende klinische Betrachtung der Krankheitsfälle.

In gewisser Hinsicht hat Kahlbaum zwar die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass damit der psychiatrische Boden für die weitere Durchdringung mit anatomischen Details vorbereitet werden kann.

Letztlich wird dies aber – wie die Erfahrungen in Forschung und psychiatrischer Wissenschaft, insbesondere in der Biologischen Psychiatrie und in den Systemischen Neurowissenschaften zeigen – nicht gelingen. Vielmehr sollte erst Karl Jaspers, ca. 50 Jahre später, die Basis des psychiatrischen Wissens erkennen.

Erst auf Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant hat nämlich Jaspers – nach vertieftem Studium der Schriften von Kant (vgl. mit Jaspers Zitat 14 und dem Vorwort zur vierten Auflage der Allgemeinen Psychopathologie Jaspers Zitat 14a)- erkannt, dass es in der Psychiatrie unmöglich ist die Idee der Krankheitseinheit (vgl. mit Jaspers Zitat 6) physisch begründet zu bestimmen. Und es sollte sich erweisen dass Kahlbaum Recht behält, wenn er schreibt, dass das empirische Material nach der Methode der klinischen Pathologie zu ordnen und klären ist. Und wie man sich überzeugt ist demgemäß eine psychiatrische Diagnose eine phänomenologische Diagnose.

Man kann auch sagen, dass daher eine psychische Störung nach wie vor auf Grundlage der klinischen Erscheinungen bzw. auf Grundlage des klinischen Erscheinungsbildes nämlich auf Basis des psychischen Symptomenkomplexes und dessen Verlaufs erkannt und in der Diagnostik bestimmt wird. Ja, man kann daher berechtigt sagen, dass die psychiatrische Diagnostik, die psychiatrische Klassifikation und die psychiatrische Systematik auf der Phänomenologie bzw. auf der Psychopathologie beruhen.

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Weiteres zu dieser Thematik in meinem Buch:

Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

erschienen im April 2019 im Verlag tredition

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(letzte Änderung 22.12.2019, abgelegt unter: Diagnostik, Psyche, Psychiatrie, Zitate, psychiatrische Wissenschaft)

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