Am Beginn des 19. Jahrhunderts gab es noch keine psychiatrische Krankheitlehre (psychiatrischen Nosologie) im heutigen Sinn. Es gab bis dahin keine psychiatrische Klassifikation, die es ermöglichte die vorkommenden psychischen Störungen nach einer psychiatrischen Systematik zu bestimmen.
Bis dahin war nicht bekannt, wie die einzelnen psychischen Störungen definiert und gegeneinander abgegrenzt sind.
Da man die psychischen Störungen nicht auf körperliche Krankheitsursachen zurückführen konnte war derzeit nur eine Einteilung und Definition der psychischen Krankheitszustände auf der Grundlage der psychischen Merkmale, also nur nach der psychischen Anomalie möglich, wie dies Wilhelm Griesinger erkannt hatte (vgl. mit Griesinger Zitat).
Allerdings glaubte Wilhelm Griesinger (*1817-1868), dass in Zukunft eine Eintheilung der psychischen Krankheiten nach ihrem Wesen, d.h. nach den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränderungen des Gehirns möglich ist (vgl. mit Griesinger Zitat).
Auf der Basis der Einteilung der psychischen Störungen nach der psychischen Anomalie schuf W. Griesinger die erste systematische Nosologie der Psychiatrie.
Diese Krankheitslehre (Nosologie) ist von den ihm nachfolgenden Nervenärzten weiter entwickelt worden.
Sein Nachfolger Emil Kraepelin (*1856-1926) und andere Nervenärzte haben weitere psychiatrische Krankheitseinheiten beschrieben und in diese in die phänomenologisch definierte Krankheitslehre aufgenommen.
So entwickelte und differenzierte sich die psychiatrische Klassifikation zu der heute in Verwendung befindlichen Psychiatrischen ICD-10 Klassifikation und in die DSM-V Klassifikation.
Einzelne phänomenologische psychiatrische Diagnosen konnten im Laufe der Zeit durch somatische Diagnosen abgelöst werden. Am Beispiel der Diagnose: progressive Paralyse sieht man, wie diese phänomenologisch definierte, systematische Einheit aus der Nosologie verschwunden ist , nach dem man körperliche Ursachen entdeckt hatte durch die dieses klinische Erscheinungsbild hervorrufen werden kann.
Es stellte sich nämlich heraus, dass in vielen Fällen der Lues Erreger (Treponema pallidum) durch den Befall des zentralen Nervensystems ein derartiges klinisches Erscheinungsbild hervorrufen kann bzw. in vielen Fällen hervorgerufen hatte. In diesem Zusammenhang bemerkte man allerdings, dass auch andere körperliche Ursachen ein gleichartiges klinisches Erscheinungsbild hervorrufen können.
Ab der Zeit der Entdeckung der körperlichen Ursache war es also möglich diese gesundheitliche Störung auf der Grundlage der körperlichen Ursache ätiologisch begründet und damit objektiv gültig diagnostisch zu bestimmen. Verständlicher weise verschwand in weiterer Folge die phänomenologische Diagnose progressive Paralyse aus der psychiatrischen Klassifikation, da diese Diagnose nicht spezifisch war.
Berechigterweise konnte solches Wissen das auf der Grundlage der „physischen“ Ursache bestimmt werden konnte mit größerer Autorität vertreten werden, als das Wissen das sich auf psychische Erscheinungen, auf psychische Symptome bzw. krankheitswertige psychische Phänomene respektive auf psychopathologische Phänomene gegründet hatte.
Damit kann aufgezeigt werden, dass die Entwicklung der Psychiatrie und später auch die Entwicklung der Psychotherapie erst möglich geworden ist nach dem durch phänomenologisch und philosophisch gesprochen dogmatisch definierte systematischen Einheiten die Vielfalt der psychischen Erscheinungen – sprich die Vielfalt der psychischen Störungen – aufgegliedert und differenziert worden ist.
Ausgehend von diesen systematischen Einheiten konnten die verschiedensten Theorien der Psychiatrie und der Psychotherapie entwickelt werden und hat man auf dieser Basis die verschiedenen Therapiemethoden entdeckt. Selbst die Entdeckung der Psychopharmaka, die Entdeckung der Antidepressiva, der Neuroleptika, der Tranquilizer usf. war erst möglich, nach dem diese rein „geistigen Gebilde“ , diese phänomenologisch definierten psychiatrischen Einheiten geschaffen worden waren.
Interessanterweise ist heutzutage dieses Wissen über das geisteswissenschaftliche Basis der Psychiatrie weitgehend in Vergessenheit geraten und wird die geisteswissenschaftliche Basis der Psychiatrie heutzutage weitgehend – selbst von Psychiatern- nicht beachtet, und tritt die Psychiatrie heutzutage vielfach so auf, als ob sie in diagnostischer Hinsicht mit biologischen Einheiten befasst ist.
Diese Nicht-Beachtung der Grundlage des Wissens gereichte der Psychiatrie zum Nachteil.
Die Nichtbeachtung der geisteswissenschaftlichen Basis der Psychiatrie hat zu verschiedenen Problemen in der Psychiatrie geführt mit denen sie seit einigen Jahrzehnten beschäftigt ist, die sie jedoch ohne die Beachtung ihrer Erkenntnisbasis nicht wird lösen können.
Die Nicht-Beachtung der Erkenntnisbasis der Psychiatrie führt nämlich zu verschiedenen Problemen in der psychatrischen Praxis und der psychiatrischen Wissenschaft, wie sie in separaten Beiträgen aufgezeigt werden. (Weiteres dazu hier)
Auch für die psychiatrische Lehre und die Entwicklung des Faches Psychiatrie haben sich nachteilige Folgen aus der Nicht-Beachtung und dem dem Missverständnis der psychiatrischen Ideen ergeben.
Es muss also festgehalten werden, dass diese Probleme aus der Verkennung des psychiatrischen Wissens resultieren.
Auf der englischsprachigen Wikipedia-Seite: Medical diagnosis im wird im Kapitel Overview auf die diagnostischen Probleme in der Psychiatrie hingewiesen.
In verschiedenen Beiträgen dieser website wird aufgezeigt aus welcher Quelle diese Probleme resultieren. Weiteres dazu finden Sie hier und auf der Seite medizinische Diagnose – psychiatrische Diagnose.
Es darf an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass auf der deutschsprachigen Wikipedia-Seite: Diagnose und auf der deutschsprachigen Wikipedia-Seite Psychiatrie die diagnostischen Probleme in der Psychiatrie und deren Folgen nicht (noch nicht) erwähnt werden.
Eine Einführung zur Thematik finden Sie auf der Seite: medizinische Diagnose – psychiatrische Diagnose und eine Zusammenfassung dazu auf dem Poster:
Die Anwendung der “Kritik der reinen Vernunft” von Immanuel Kant auf das psychiatrische Diagnostizieren – Auswirkungen auf die psychiatrische Praxis und Wissenschaft
der am DGPPN Kongress 2009 in Berlin vorgestellt worden ist.
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(letzte Änderung 23.11.2015, abgelegt unter Klassifikation, Kategorie, Medizinische Diagnostik, Psychiatrie, Diagnostik)
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