In der Medizin, Psychologie und Psychiatrie werden viele synthetische Urteile gebildet.
Wenn jemand sagt, dass er nun wieder gesund ist, so handelt es sich dabei um ein synthetisches Urteil.
Diese Person schließt aus dem Umstand, dass gewisse Beschwerden (Symptome und Phänomene) nicht mehr vorhanden sind, darauf, dass sie nun wieder gesund ist.
Analog wenn eine Person, oder ein Arzt auf der Grundlage des Vorhandenseins von gewissen Symptomen und Befunden darauf schließt, dass diese oder jene Krankheit bzw. gesundheitliche Störung vorliegt, so handelt es sich dabei ebenfalls um ein synthetisches Urteil. (vgl. mit Kant Zitat 7)
Man sieht also, dass auf der Grundlage von einzelnen Gegebenheiten, entweder auf die eine, oder die andere Idee bzw. Verdachtsdiagnose geschlossen wird.
Der Begriff „Gesundheit“ und auch der Begriff „Krankheit“ stellt nach der Terminologie von Immanuel Kant jeweils ein Schema dar, unter dem andere „Gegenstände“ durch den Bezug auf dieses Schema aufgefasst werden. (vgl. mit Kant Zitat 7)
Das Schema stellt also einen geistigen Bezugspunkt dar, unter dem andere „Gegenstände“ durch den Bezug auf dieses Schema bzw. durch den Bezug auf diese Idee aufgefasst werden.
Betrachtet man die verschiedenen medizinischen Krankheitseinheiten, so findet man, dass es Krankheitseinheiten (Störungen) gibt, die sich auf „Gegenstände schlechthin“ gründen, und solche, die sich auf „Gegenstände in der Idee“ gründen.
Es ist also so, dass die Schlussfolgerungen sich auf ein Schema beziehen, das entweder einer Prüfung auf der Ebene der physischen Objekte unterzogen werden kann, oder aber es ist eine solche Prüfung („am Probierstein der Erfahrung„) ist nicht möglich. (vgl. mit Kant Zitat 10)
Vergleicht man z.B. das diagnostische Schema „Herzinfarkt“ mit dem diagnostischen Schema „Schizophrenie„, so findet man, dass das Schema: „Herzinfarkt“ im konkreten Fall, durch den Nachweis von gewissen „Gegenständen“, bzw. durch „Beschaffenheiten„, die uns als „Gegenstände schlechthin„, gegeben sind überprüft werden kann, nämlich durch den Befund wie er sich aus den Enzymen und den EKG Zeichen etc. ergibt. Im Gegensatz dazu, kann das Schema: “Schizophrenie” bzw. die psychiatrische Kategorie, die die Merkmale des Schemas der psychiatrisch-diagnostischen Idee Schizophrenie aufzeigt – nicht durch den Nachweis von „Gegenständen schlechthin“ überprüft werden, sondern es kann in diesem Fall lediglich auf der Ebene der Vorstellungen durch Überlegung geprüft werden, ob das Schema auf den konkreten Fall zutrifft, oder nicht zutrifft. Man kann also in diesem Fall lediglich auf der Ebene der Vorstellungen durch Überlegung „prüfen“, ob gewisse psychopathologische Phänomene vorhanden sind, oder diese nicht vorhanden sind. Eine Demonstration der spezifischen Merkmale in der Anschauung bzw. ein objektiver Beweis dieser Merkmale ist nicht möglich.
Man sollte sich also dessen bewusst sein, dass das Schema „Schizophrenie“ eine projektierte „systematische Einheit“ ist, die nicht „physisch“ überprüft werden kann.
In philosophischer Hinsicht eine solch projektierte Idee eine bloße Idee bzw. ein transzendentales Schema (vergl. mit Kant Zitat 13, letzter Absatz), welches durch „reine Synthesis der Verstandesbegriffe“ entstanden ist.
Die projektierte Einheit „Schizophrenie“ ist bekannt, seit der Psychiater Eugen Bleuler diese auf der Grundlage seiner klinischen Erfahrung, also auf der Grundlage seiner klinischen Beobachtungen und Überlegungen, also infolge seiner sinnlichen Wahrnehmungen und seiner Kreativität vorerst hypothetisch angenommen hat. In einer zweiten Phase fand er dann seine Annahme bestätigt, nachdem er durch die Anwendung des Schemas auf weitere Fälle zur (subjektiven) Erkenntnis gelangte, dass das Schema auch auf diese Fälle zutreffend ist. Schließlich hat Eugen Bleuler die diagnostische Einheit als solche beschrieben und publiziert hat. (vergl. mit dem Bleuler Zitat)
In der Zeit des Psychiaters Wilhelm Griesinger war die diagnostische Einheit Schizophrenie, die eine „systematische Einheit“ im Sinn von Immanuel Kant ist, noch nicht bekannt, sondern sind damals noch eine andere „systematische Einheiten“ bzw. andere diagnostische Schemata in Verwendung gewesen, mit deren Hilfe psychisch auffällige Personen diagnostisch erfasst worden sind. (siehe dazu diesen Beitrag)
Es war also so, dass Eugen Bleuler – ausgehend von den ihm bekannten psychiatrisch-diagnostischen Schemata – im besonderen ausgehend vom Schema „Dementia praecox„, das von Emil Kraepelin in die psychiatrische Klassifikation eingeführt worden war – das Schema „Schizophrenie“ entwickelt hat.
Damit hat Eugen Bleuler eine neue Kategorie bzw. eine neue „systematische Einheit“ zur Erfassung von psychisch auffälligen Personen geschaffen – und ist dieses diagnostische Schema, weil es in der Fachwelt auf Zustimmung stieß, alsbald in die Psychiatrische Praxis übernommen worden.
Es hat in weiterer Folge die Kategorie „Schizophrenie“ die frühere Kategorie „Dementia praecox“ abgelöst.
(Anmerkung: Im Bleuler Zitat ist bemerkenswert welche Wortwahl Manfred Bleuler, der Sohn von Eugen Bleuler gewählt hat, wenn er über seinen Vater schreibt – wie folgt: „…. weil ihm die elementarsten Störungen in einer mangelhaften Einheit, in einer Zersplitterung und Aufspaltung des Denkens, Fühlens und Wollens …… zu liegen schienen. Er wollte auch ….“ (Ende des Zitats) Es ist also bemerkenswert dass durch das Wort „schienen„Manfred Bleuler auf den „hypothetische Gebrauch der Vernunft“ seines Vaters zutreffend hinweist).
Man sieht also, dass der geistige Bezugspunkt „Schizophrenie“ zuerst als Idee entwickelt und sodann als Schema beschrieben und definiert werden mußte, und, dass es erst ab diesem Zeitpunkt möglich war, psychische Auffälligkeiten in Bezug auf diesen geistigen Bezugspunkt zu bestimmen.
Grundsätzlich kann man psychische Auffälligkeiten unter verschieden definierten Schemata auffassen und bestimmen. Man könnte also, wenn man wollte auch heute noch die psychischen Auffälligkeiten unter den Kategorien von Wilhelm Griesinger auffassen, oder unter den Kategorien auffassen, die Emil Kraepelin verwendet hat. Damit würden jeweils andere Symptomenkomplexe unter anderen „systematischen Einheiten“ aufgefasst werden, bzw. ergäben sich damit andere Gruppierungen aus einem bestimmten Patientenkollektiv.
Damit wird einsichtig warum in der Psychiatrie Länderweise verschiedene Klassifikationen entstanden sind und warum die Klassifiktionen im Laufe der Zeit weiter entwickelt worden sind.
Beziehungsweise wird damit auch deutlich, dass die Anwendung von verschiedenen Klassifikationen in der Psychiatrie zu unterschiedlichen Ergebnissen führt.
Damit wird also deutlich, dass diese transzendentalen Bezugspunkte nichts “Fixes” und nichts eindeutig “Bestimmtes” und nichts eindeutig „Bestimmbares“ sind.
Mit anderen Worten die psychiatrischen Kategorien können gar nichts „Fixes“ und eindeutig „Bestimmbares“ sein. Vielmehr müssen sie aus praktischen Gründen – so wie dies bereits Wilhelm Griesinger treffend erkannt hat – nach einer Konvention (nach einer Meinung, nach einem Dogma) festgelegt werden. In weiterer Folge können dann damit alle vorkommenden psychischen Auffälligkeiten unter diesen wenigen Hauptgruppen diagnostisch erfasst werden. (vgl. mit Griesinger Zitat)
Der Psychiater Wilhelm Griesinger war sich also der Tatsache bewusst, dass die psychischen Störungen nur nach einem „funktionellen“ bzw. „psychologischen Einteilungsprinzip“ und nicht nach einem „anatomischen„, „fix“ bestimmten Einheiten erfasst werden können. Weiters war sich Wilhelm Griesinger auch der Tatsache bewusst, dass solche Erkenntnisse nur relative Erkenntnisse sind. (siehe dazu Griesinger Zitat letzter Absatz)
Bei den psychiatrischen Kategorien handelt es sich also um hypothetische Einheiten, die konventionsgemäß “so” oder auch “anders” definiert werden können, bzw. so definiert worden sind, weil diese Definition den Fachleuten als die treffendste und daher angemessenste erschien. (Anmerkung: das Wort „erschien“ ist bewusst fett und in der Farbe rot herausgehoben worden, weil durch das Wort „erschien“ sprachlich deutlich wird, dass es sich um eine „Erscheinung“ im Bewusstsein einer Person handelt.)
Weil es sich um Erscheinungen im Bewusstsein der jeweils erkennenden Person handelt, und diese Erscheinungen nicht unmittelbar am Probierstein der Erfahrung geprüft werden können (vgl. mit Kant Zitat 10), ist es verständlich warum in der Psychiatrie verschiedene Klassifikationen nebeneinander entstanden sind und auch heute noch nebeneinander existieren.
Im Rahmen der ICD-10 Revision werden Überlegungen angestellt, inwiefern die Klassifikation abgeändert werden soll. Gleicherweise haben auch die Fachleute, die gegenwärtig mit der DSM-IV Revision befasst sind Überlegungen angestellt in welcher Art und Weise diese Klassifikation abgeändert werden soll. Jede Ideologie – im Sinn einer Ideen-Sammlung – hat dabei ihre Argumente für sich, warum sie „so“ und nicht „anders“ definiert werden soll. Es erscheinen also jeweils aus der einen, oder anderen Sicht Argumente als zielführend bzw. zweckmäßig. (vgl. mit Kant Zitat 2).
Erst in der Praxis wird es sich sodann erweisen, inwiefern eine Änderung sich als zweckmäßig bewährt bzw. der vorangehenden Version über- oder unterlegen ist.
Nachdem in Bezug auf das Schema Schizophrenie in der jüngeren Vergangenheit keine weiteren, wesentlichen Änderungsvorschläge mehr gemacht worden sind, kann man sagen, dass dieses transzendentale Schema – welches nach teleologischen Gesichtspunkten gebildet worden ist – dem derzeit best möglichen Schema entspricht – und wird voraussichtlich diese „systematische Einheit“ (mit den Untereinheiten und benachbarten Einheiten, wie „schizoaffektiver Störung“ usf.) in Verwendung bleiben – es sei denn, dass tatsächlich eines Tages „physische“ Parameter entdeckt werden, durch die derartige psychische Störungen objektiv gültig diagnostisch bestimmt werden können. Denkt man dabei einen Moment lang an die diagnostische Einheit „progressive Paralyse„, welche ebenfalls eine phänomenologisch- diagnostische Einheit in der Psychiatrie war, so ist es allerdings nahe liegend, dass nicht nur eine einzige Ursache zum Symptomenkomplex führt den wir als „schizophrene Störung“ diagnostizieren, sondern ist es vielmehr naheliegend, dass verschiedene Ursachen letztlich zu ein und dem selben klinischen Erscheinungsbild führen können, so wie sich dies bekanntlich bezüglich des Erscheinungsbildes: „progressive Paralyse“ in der Vorzeit herausgestellt hat.
Das heißt, in diesem Falle würde voraussichtlich mit der „systematischen Einheit“ „Schizophrenie“ das gleiche passieren, wie es mit der diagnostischen Einheit“ „progressive Paralyse“ passiert ist. Bekanntlich wurde diese phänomenologische Einheit durch die entsprechenden ätiologisch bestimmten und bestimmbaren Diagnosen ersetzt werden – und würde dann der Begriff Schizophrenie aus der Psychiatrie verschwinden. (siehe dazu diesen Beitrag).
Man soll also der „Natur„ (vergl. mit Kant Zitat 2) „nach allen möglichen Prinzipien der Einheit„, worunter die der „Zwecke“ die vornehmste ist, „bis in ihr Innerstes nachgehen, niemals aber die Grenze überfliegen, außerhalb welcher für uns nichts als leerer Raum ist„.
In diesem Sinne sind alle diagnostischen Einheiten in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) transzendentale Schemata bzw. tranzendentale geistige Bezugspunkte, die es uns ermöglichen klinische Erscheinungen unter den jeweiligen geistigen Bezugspunkten aufzufassen.
In weiterer Folge können sodann, die, auf diese Art und Weise erfassten Patientengruppen systematisch (wissenschaftlich) beobachtet und studiert werden. Auf diese Art und Weise kann also empirisch untersucht werden, was bei dieser oder jener Patientengruppe zur Besserung der gesundheitlichen Störung nützlich ist.
Man sieht also, dass sowohl die Entdeckungen auf dem Gebiet der Sozialpsychiatrie, wie auch die Entdeckungen im Bereich biologischen Psychiatrie erst möglich geworden sind nach dem diese transzendentalen Einheiten, diese „bloßen Ideen“ geschaffen und eingeführt worden waren. Erst ab dieser Zeit war es möglich in der Psychiatrie systematisch zu studieren wie Neuroleptika, die Antidepressiva, die minor Tranquilizer, die Mood-Stabilizer usf. wirksam sind. All die systematischen Studien in der psychiatrischen Wissenschaft werden mit Hilfe dieser transzendentalen Einheiten, die „bloßen Ideen“ sind, durchgeführt.
Ferner sieht man damit, dass mithilfe dieser „Denkkonstrukte“, welche kraft des menschliches Denkvermögens (kraft der menschlichen Kreativität, des Verstandes, der Vernunft und der klinischen Erfahrung) entstanden sind, und heute allerorten in Anwendung sind, Praktisches und Nützliches geleistet werden kann und geleistet wird. So gesehen ist der Fortschritt in der Psychiatrie weitgehend eine Folge der Entdeckung dieser bloßen Ideen wie sie im Lauf der Psychiatrie Geschichte entwickelt worden sind.
Neben den diagnostischen Kategorien in der Psychiatrie sind auf analoge Art und Weise auch verschiedene psychologische und psychotherapeutische Ideen (Theorien, Konzepte) entstanden, welche ebenfalls sämtliche bloße Ideen im Kant` schen Sinn sind.
(letztes update 30.11.2011)
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