Konsequenzen für die medizinische Praxis und Lehre

In diesem Beitrag wird unter Bezugnahme auf das Gedankengut von Immanuel Kant diskutiert welche Konsequenzen sich für die medizinische Praxis und Lehre aus der Erkenntnisbasis ergeben.

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Immanuel Kant schreibt:

“Gehen wir aber von dieser Restriktion der Idee auf den bloß regulativen Gebrauch ab, so wird die Vernunft auf so mancherlei Weise irre geführt, ….  “ (das ganze Kant Zitat finden Sie hier)

Aus dieser Erkenntnis ergibt sich dass der angemessene Gebrauch der Ideen nämlich der relativistische Gebrauch der Ideen eminent wichtig ist, wenn die Idee nicht auf ein Objekt zurückgeführt und auf dieser Grundlage allgemein gültig überprüft werden kann. (vgl. mit Kant Zitat 3a)

Diese Erkenntnis ist also für die Medizin im Sinn der Schulmedizin, ganz besonders für die Psychiatrie und auch für viele andere Bereiche des Wissens von großer Bedeutung.

Wie in den einzelnen Beiträgen mehrfach aufgezeigt wurde steht das psychiatrische Wissen auf einer anderen Erkenntnisgrundlage als das Wissen in der körperlichen Medizin, soweit dieses sich auf objektive Befunde gründet.

Anmerkung: Damit ist natürlich nicht gesagt, dass die psychischen Erscheinungen keine biologische Grundlage haben. Selbstverständlich entstehen auch die psychisch-geistigen Erscheinungen als Folge der neuronalen Funktion des Nervensystems und haben sie so gesehen eine organische bzw. eine biologische Grundlage. Die Erkenntnis der psychischen Phänomene und der psychischen Störungen und damit der psychiatrischen Diagnosen erfolgt jedoch ausschließlich nur der auf der mentalen Ebene und es spielen dabei „physische“ Parameter (z.B. Laborbefunde, MRT – Befunde, fMRT Befunde, Befunde der Genetik etc.) im Hinblick auf die Diagnostik keine wesentliche Rolle, sondern es spielen solche Befunde allenfalls eine sekundäre Rolle im Sinn von Zusatzbefunden insofern dadurch die psychische Erscheinung besser erklärt werden kann.

Infolge der phänomenologischen Erkenntnisgrundlage des psychiatrischen Wissens ist es nicht möglich in der Psychiatrie „physisch“ gesichertes Wissen zu erlangen, wie dies in der Medizin in vielen Fällen möglich ist. Man kann in der Psychiatrie kein physisch gesichertes Wissen durch physische Befunde erlangen, weil man die Relation zwischen den psychischen Erscheinungen und den körperlichen Grundlagen, auf denen diese Erscheinungen entstehen, nicht kennt. Es ist zwar unzweifelhaft so, dass die psychischen Erscheinungen als Folge der neuronalen Funktion, somit als Folge der Aktivität des Gehirn im Bewusstseins der erkennenden Person in der Form der verschiedenen psychischen Phänomene erscheinen, aber wie genau diese Erscheinungen im einzelnen Individuum zu Stande kommen das weiß man nicht – eben weil diese Relation nicht bekannt ist. (Weiteres dazu auf Poster 6: Diagnosis in Psychiatry – the Role of Biological Markers – an investigation in the light of Immanuel Kant`s philosophy, der am DGPPN Kongress 2010 in Berlin vorgestellt worden ist)

Es ist daher in der Psychiatrie und Psychotherapie – so wie in einem Teilbereich der körperlichen Medizin, nämlich in dem Bereich wo die Erkenntnisse sich auf Symptome und auf nicht-objektivierbare Phänomene gründen – und diese daher nicht objektiviert werden können – nicht möglich, die Sachverhalte so gewiss zu wissen, wie dies bei den objektivierbaren Diagnosen in der somatischen Medizin möglich ist. (eine Darstellung in der Übersicht dazu finden Sie auf diesem Poster 2 : MEDICAL DIAGNOSES AND PSYCHIATRIC DIAGNOSES – THE DIFFERENCE – IN THE LIGHT OF IMMANUEL KANT` S PHILOSOPHY, der am EPA (European Psychiatric Association) Kongress 2010 in München vorgestellt worden ist.

Die medizinische Praxis erfordert immer dann eine relativierende Handhabung des Wissens wenn das erlangte Wissen nicht absolut gewiss ist. Das heißt wenn das Wissen nur auf der Grundlage einer Idee erkannt werden kann (vgl. mit Kant Zitat 3a).

Weil man in der Psychiatrie das Wissen grundsätzlich nur auf der Grundlage von Ideen erlangt, nämlich auf der Grundlage von bloßen Ideen (vgl. mit Kant Zitat 4) ist hier die relativierende bzw. die relativistische Verwendung der Ideen besonders wichtig.

Wird man dem nicht gerecht und verabsolutiert man das erlangte Wissen – sieht man also solches Wissen im Irrtum befangen wie faktisches Wissen an – dann führt dies zu den verschiedensten Schwierigkeiten und Problemen. (vgl. mit Kant Zitat 3a)

Es ist also ein angemessen kritisches Denken in der Medizin und insbesondere in der Psychiatrie erfordert. Damit ist ein dynamisch-flexibles Denken gemeint das der individuellen, situativen Gegebenheit im konkreten Fall gerecht wird.

Wie nicht anders möglich, kann dies nur gelingen wenn die jeweiligen Erkenntnisse – so wie sie begrifflich benannt worden sind – in der Begriffsauslegung relativiert, d. h. den individuellen und situativen Gegebenheiten angepasst werden.

Auf diese Art und Weise sollte man den jeweiligen Sachverhalt angemessen relativieren bzw. die Ideen im Kant`schen Sinn nur regulativ und nicht konstitutiv verwenden. (vergl. mit Kant Zitat 3a)

Das heißt man weiß, aber man weiß nur beschränkt. Man kann daher nur beschränkt die Sachverhalte zutreffend beschreiben und charakterisieren – und man kann daher nur beschränkt verbindlich ein fachliches Urteil über den Sachverhalt abgeben. Es handelt sich daher je nach Sachverhalt und Situation verschieden um Wissen vom Grad einer wenig gesicherten Meinung bis hin zu Wissen das annähernd den Grad der Gewissheit erlangt, obwohl es sich auf eine Idee gründet.

Es ist so – wie Karl Jaspers gesagt hat – dass unser Wissen von der eindringenden Art ist und, dass unser Wissen an der Grenze des Wissens dem Unwissen gegenübersteht und dass unser Wissen je nach Situation und Sachverhalt verschieden von unterschiedlichem Grad ist.

Daher soll man das Wissen in der Psychiatrie und in der Psychologie – wie dies ebenfalls Karl Jaspers gesagt und geschrieben hat -“ in der Schwebe“ halten. (vgl. mit Jaspers Zitat 2) – und es gilt dies natürlich für alle anderen Bereiche des Wissen wo man die erlangte Idee und damit die erlangte Erkenntnis nicht an der Realität allgemein gültig überprüfen kann. Insbesondere gilt dies auch für das Wissen in der Medizin, wo die erlangten Ideen nicht physisch überprüft werden können.was auf die syndromalen Diagnosen im engeren Sinn bzw. auf die phänomenologischen Diagnosen in der Medizin zutreffend ist.

In der Psychiatrie (Psychologie) und in dem Teilbereich der somatischen Medizin, wo die Erkenntnisse nicht objektiviert werden können, ist unser Wissen, infolge der dort gegebenen Erkenntnisgrundlagen besonders beschränkt, wie dies an anderer Stelle detailliert in einzelnen Beiträgen aufgezeigt wird. (-> Weiteres dazu hier)

Dessen sollte man sich bewusst sein.

Wenn man vermeintliches Wissen auf der Grundlage des falschen Gebrauchs der Ideen – etwa in der Medizin, in der Psychiatrie (Psychologie / Psychotherapie)  oder sonst in einem Bereich, in dem man kein objektives Wissen erlangen kann, so ansieht wie faktisches Wissen dann wird dies nicht weit führen – weil man damit alsbald in ewige Widersprüche und in Streitigkeiten (vgl. mit Kant Zitat 3) bzw. in Anitinomien (vgl. mit Jaspers Zitat) gerät.

Selbstredend ist solches Wissen der Sache nicht angemessen und daher auch nicht dienlich bzw. hält solches Wissen der Kritik  nicht stand – vor allem aber ist es zum Schaden für die Patienten.

Die kritische Reflexion des Wissens ist also in jedem Bereich der Medizin und auch in der Psychiatrie von größter Bedeutung.

In der Psychiatrie ist die kritische Reflexion geradezu das „Um und Auf“ – weil uns hier kein anderes „Messinstrument“ zur Überprüfung der Erkenntnisse zur Verfügung steht. Wir haben in der Psychiatrie (Psychologie, Psychotherapie) keinen unmittelbar vorhandenen  „Prüfstein der Erfahrung“ – sondern wir können diese Erkenntnisse nur durch die kritische Reflexion überprüfen (vgl. mit Kant Zitat 10). Es gibt in der Psychiatrie keinen physischen Maßstab durch den das psychiatrische Wissen gemessen werden kann sondern einen nur individuell entwickelten geistigen Maßstab den eine Fachperson in der Psychiatrie auf der Grundlage einer Konvention entwickelt hat.

Als Konsequenz dieser Gegebenheiten soll man sich zwar des „Wissens“, wie dieses von der „Lehre“ und von der „Wissenschaft“ in der Psychiatrie hervorgebracht wird bedienen. Man soll also unter anderem das Wissen wie es in den psychiatrischen Leitlinien wiedergegeben wird beachten und soweit als möglich berücksichtigen. Daneben soll man aber das eigene „Wissen“, insbesondere als Arzt die eigene klinische Erfahrung, und überhaupt auch sonst die Lebenserfahrung nicht gering schätzen und soll man sich des eigenen „Verstandes ohne die Leitung eines anderen bedienen“ (vgl. mit Kant Zitat 11). Mit anderen Worten: man soll mündig sein.

Demgemäß ist es die große Aufgabe der „medizinischen Lehre“ nicht nur „wissenschaftliches Wissen“ hervorzubringen und dieses zu verbreiten, sondern es ist auch die Aufgabe der Heilkunde die junge Kollegenschaft zu lehren das erlangte Wissen im konkreten Fall angemessen dies bedeutet auch  kritisch zu verwenden.

Oder man kann auch sagen: neben der Wissensvermittlung sollte auch gelehrt werden wie das Wissen und damit die Ideen und Kenntnisse angemessen relativiert und richtig genützt werden. Nur so wird das mögliche Wissen bestmöglich genützt und der angestrebte Zweck bestmöglich erlangt (vgl. Kant Zitat 2).

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(letzte Änderung 13.11.2014, abgelegt unter Medizinische Diagnostik, Medizin, Psychiatrie)

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