Wenn man zu einer Erkenntnis gelangt, geht man primär davon aus, dass die Erkenntnis zutreffend ist, das heißt, dass auch andere Personen die Sache so „sehen“ wie man sie selbst „sieht“.
Erst sekundär macht man öfters die Erfahrung, dass unter Umständen andere Personen zu einer anderen Erkenntnis gelangen bzw. andere mit meiner Erkenntnis (Ansicht/Sichtweise) nicht übereinstimmen.
Das heißt, wir erkennen oftmals erst sekundär, dass unter Umständen eine andere Personen die gegenständliche Sache anders sieht.
Dies kann sich auf sinnliche Wahrnehmungen beziehen, häufiger jedoch auf Erkenntnisse, die wir nur auf der Ebene der Vorstellungen erkennen, also auf das „geistige Sehen“ einer Sache.
Man spricht auch in einem solchen Fall vom „Sehen“ auch wenn es sich nicht um ein „optisches Sehen“, sondern um das (subjektive) „Sehen“ von Vorstellungen bzw. um das sehen von Ideen handelt.
Tatsächlich ist es ein häufiges Phänomen, dass Personen Sachverhalte unterschiedlich (geistig) sehen.
Über Erkenntnisse schreibt Immanuel Kant folgendes:
” Empirische Urteile, so fern sie objektive Gültigkeit haben, sind Erfahrungsurteile, die aber, so nur subjektiv gültig sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurteile. Die letzteren bedürfen keines reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt. Die erstern aber erfordern jederzeit über die Vorstellungen der sinnlichen Anschauung, noch besondere im Verstande ursprünglich erzeugte Begriffe, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil objektiv gültig ist.
Alle unsere Urteile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurteile; sie gelten bloß vor uns, d. i. vor unser Subjekt, und nur hinten nach geben wir ihnen eine neue Beziehung, namlich auf ein Objekt, und wollen, daß es auch vor uns jederzeit und eben so vor jedermann gültig sein solle; denn wenn ein Urteil mit einem Gegenstande übereinstimmt, so müssen alle Urteile über denselben Gegenstand auch untereinander übereinstimmen und so bedeutet die objektive Gültigkeit des Erfahrungsurteils nichts anderes als die notwendige Allgemeingültigkeit desselben.“
(Das ganze Kant Zitat finden sie hier)
Immanuel Kant nennt die primären Urteile, die nur subjektiv gültig sind Wahrnehmungsurteile und spricht von einem Erfahrungsurteil (im Sinne eines objektiven Urteils) erst dann wenn das Urteil mit einem Gegenstand übereinstimmt.
Tatsächlich sind auch in der Medizin die Erkenntnisse nur dann objektiv und daher allgemein gültig, wenn sie sich auf uns tatsächlich gegebene Gegenstände, auf „Gegenstände schlechthin“ oder „Beschaffenheiten“ von solchen Gegenständen beziehen.
Sofern etwas als Erkenntnisgegenstand uns primär nur als „Gegenstand in der Idee„, (in unserer Vorstellung) gegeben ist, können wir nicht sicher sein, dass die Erkenntnis objektiv ist, nur in manchen Fällen kann sekundär die Erkenntnis entsprechend gesichert werden.
Immanuel Kant schreibt im Zitat 6 weiter wie folgt:
„Aber auch umgekehrt, wenn wir Ursache finden, ein Urteil vor notwendig allgemeingültig zu halten (welches niemals auf der Wahrnehmung, sondern dem reinen Verstandesbegriffe beruht, unter dem die Wahrnehmung subsumiert ist), so müssen wir es auch vor objektiv halten, d.i. daß es nicht bloß eine Beziehung der Wahrnehmung auf ein Subjekt, sondern eine Beschaffenheit des Gegenstandes ausdrücke; denn es wäre kein Grund, warum anderer Urteile notwendig mit dem meinigen übereinstimmen müßten, wenn es nicht die Einheit des Gegenstandes wäre, auf den sie sich alle beziehen, mit dem sie übereinstimmen, und daher auch alle unter einander zusammenstimmen müssen.” (Ende des Zitats)
Es muss sich also um einen real existenten Gegenstand (oder die Beschaffenheit eines solchen Gegenstandes) bzw. um ein demonstrierbares Objekts handeln, auf das sich die Urteile der einzelnen erkennenden Person (oder die Urteile mehrer Personen) beziehen, damit das Urteil objektiv gültig ist.
Wenn jemand nur subjektiv – also mit sich selbst in Übereinstimmung steht – so ist damit noch nicht erwiesen, dass auch andere Subjekte mit der Beurteilung des Sachverhalts übereinstimmen bzw. dass die Beurteilung dieses Subjekts objektiv gültig und damit allgemein gültig ist. Es genügt also nicht dass „bloß eine Beziehung der Wahrnehmung auf ein Subjekt“ ohne Widerspruch ist.
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Nachfolgend ein paar Beispiele für:
Subjektive Urteile (Wahrnehmungsurteile im Kant`schen Sinn):
Aus der Medizin:
Mich fröstelt.
Ich glaube eine „Grippe“ ist bei mir im „Anzug“.
Um den Kopf spüre ich ein Gefühl wie ein Band.
Im Hals hab ich ein Gefühl wie von einem Knödel.
Innerlich spüre ich einen starken Druck, manchmal glaube ich zu zerplatzen.
Mein Magen verkrampft sich.
Seit der Einnahme des Medikaments habe ich zeitweise Heißhungerattacken. (Dies wurde auch „objektiv“ vom Ehegatten bestätigt. Das subjektive Urteil der betroffenen Person wurde in diesem Fall durch ein „objektives“ Urteil – welches genau genommen natürlich auch ein „subjektives“ Urteil ist – bestätigt.)
Meine Rückenmuskulatur ist verspannt. (Die Physiotherapeutin hat dies bei der Physiotherapie ebenfalls festgestellt, es liegt also auch ein „objektiver“ Befund vor. Auch in diesem Fall handelt es sich genau genommen nicht um ein objektives Urteil, weil nicht unbedingt jede Physiotherapeutin zu demselben „Wahrnehmungsurteil“ gelangt.)
Die Kopfschmerzen spüre ich vorallem im Bereich der Stirn.
Ein Schmerz schießt plötzlich ins Bein.
Oder:
Ein Schmerz ist in dumpfer Form im Unterschenkel praktisch ständig vorhanden, dabei spüre ich auch ein taubes Gefühl (In der neurologischen Untersuchung der peripheren Nervenbahnen zeigen sich Auffälligkeiten, womit tatsächlich objektive Hinweise für eine Nervenleitstörung vorliegen.)
Bei der Patientin finden sich mehr als 18 Schmerzpunkte, wenn ein Druck auf gewisse Stellen ausgeübt wird. Das heißt die Patientin gibt subjektiv gewiss an, dass sie einen Schmerz spürt wenn ein gewisser Druck auf eine bestimmte Stelle ausgeübt wird. Damit erscheint die Diagnose einer Fibromyalgie gesichert. Tatsächlich wird durch diese „Feststellung“ jedoch keine Objektivität erlangt – sondern, wie das Wort „erscheint“ aussagt – handelt es sich um eine „Erscheinung“ im Bewusstsein des Untersuchers, wenn dieser die Rückmeldungen der Patienten in Bezug auf die per Konvention festgelegten Kriterien für die Diagnose Fibromyalgie beurteilt, und er zu seiner subjektiven Entscheidung gelangt. Wenn andere Kollegen seine Einschätzung nicht teilen, so kann dieser Kollege keinen allgemein gültigen Beweis vorführen, dass er mit seiner Diagnose richtig liegt und die anderen Kollegen die Sache falsch einschätzen. Es handelt sich hier also um subjektives Wissen und nicht um objektives Wissen. Man kann auch sagen: die Diagnose die hier der Arzt erlangt hat gründet sich auf subjektive Evidenz und nicht auf objektive Evidenz.
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Nachfolgend eine paar weitere Beispiele für subjektive Urteile (Wahrnehmungsurteile im Sinne von Immanuel Kant)
Ein Psychiater sagt: Die Patientin ist heute weniger depressiv als vor einer Woche.
Ein anderer Psychiater sagt: Meiner Ansicht nach hat sich bei der Patientin der (psychische) Antrieb normalisiert.
Die Patientin konnte gebessert (in normalisiertem psychischen Zustand) entlassen werden.
Es besteht beim Patient eine „leichtgradige depressive Störung“ (ICD-10 F32.0).
Bei der Aufnahme war eine „depressive Störung vom mittleren Grade“ (ICD-10 F31.1) vorhanden.
Der Gedankengang ist heute bei der Patientin formal weniger gestört als zur Zeit der Aufnahme vor einem Monat.
Patient XY berichtet noch über gelegentliches Stimmenhören, dabei fühle er sich dadurch aber nicht mehr so stark beeinflusst.
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Nachfolgend ein paar Beispiele für objektive Urteile (Erfahrungsurteile im Sinne von Immanuel Kant):
aus der Medizin:
Die Leberwerte (Enzymwerte) sind pathologisch im Vergleich zur Norm (Normalität) erhöht.
In der Leberbiopsie zeigen sich deutliche Zeichen des zirrhotischen Leberumbaus.
Im Röntgenbild zeigt sich ein Deckplatteneinbruch eines Wirbelkörpers. (Herr XY ist vor Tagen gestürzt und hat seither im Rücken Schmerzen.)
Die Herzspezifischen Enzymwerte sind 2 Stunden nach dem Auftreten der Schmerzen in der Brust pathologisch erhöht und steigen weiter an. Die Herzstromkurve (EKG) ist auffällig (vor 2 Stunden traten anhaltende Herzschmerzen auf.) Der Verdacht auf einen Herzinfarkt kann damit objektiv gültig bestätigt werden. Oder man kann auch sagen die Verdachtsdiagnose konnte damit objektiviert werden und es scheiden andere Differenzialdiagnosen aus.
Der Schleimauswurf ist grünlich verfärbt. Es zeigen sich auch sonst Entzündungszeichen, die für eine Bronchitis (Husten, leichtes Fieber etc.) sprechen.
usf.
Angemerkt sei an dieser Stelle dass eine psychiatrische Diagnose immer auf einer subjektiven Erkenntnis bzw. subjektivem Wissen beruht, weil hier diese Diagnose durch psychische Phänomene bzw. durch psychopathologische Phänomene erkannt wird und daher kann eine psychische Störung immer nur subjektiv gültig bestimmt werden kann.
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(letzte Änderung 19.07.2018, abgelegt unter: Diagnostik, Erkenntnis, Medizinische Diagnostik, Medizin, Psychiatrie, Wissen)
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