Über das Zutreffen einer Theorie in der Psychiatrie

Man macht in der psychiatrischen Praxis die Erfahrung, dass eine bestimmte Theorie zu einem konkreten Fall zu einem gewissen Zeitpunkt als die am besten passende erscheint, wohingegen zu dieser Zeit eine andere Theorie als weniger passend und daher weniger relevant erscheint.

Das heißt zu einer gewissen Zeit erscheint eine Theorie als die wesentlichste im Hinblick auf das was in therapeutischer Hinsicht gemacht werden soll.

So kann es z.B. sein, dass etwa initial eine biologische Theorie den Sachverhalt am besten erklärt und zu dieser Zeit die biologische Therapie mit Psychopharmaka im Vordergrund steht, während eine psychologische Theorie mit entsprechender Psychotherapie zu dieser Zeit wenig aussichtsreich erscheint.

Im Laufe der Zeit kann sich dieser Sachverhalt ändern und es kann dann sein, dass ein anderer Aspekt vordergründig wird – etwa weil gewisse Symptome und Phänomene sich zurück gebildet haben und ein anderer Sachverhalt nun im Vordergrund steht.

In diesem Sinn kann das klinische Bild einer psychischen Störung sich im Laufe der Zeit ändern, so dass zu einem späteren Zeitpunkt eine andere Theorie zur wesentlichsten und damit zur primär leitenden Theorie wird bzw. diese Idee im Bewusstsein des Psychiaters als die wesentliche erscheint (vgl. mit Jaspers Zitat).

Erkenntnistheoretisch bzw. philosophisch betrachtet kann man sich dies wie folgt erklären. Bei einer Theorie handelt es sich immer um eine Idee. Eine solche Idee erklärt einen gewissen Zusammenhang von Dingen bzw. von Erscheinungen auf eine gewisse Art und Weise. Dabei macht es im Prinzip keinen Unterschied, ob es sich um eine biologische Theorie oder um eine psychologische Theorie handelt. Immer wird in der Psychiatrie durch eine solche Vorstellung der Zusammenhang von gewissen psychischen Phänomenen mit zugrunde liegend gedachten Ursachen erklärt.

Wenn in einer solchen Theorie von körperlichen Dingen die Rede ist, etwa von Transmittern, oder von Rezeptoren oder von sonstigen biologischen Parametern, die irgend welche psychischen Phänomene hervorrufen – immer handelt es sich um eine hypothetische Idee – also um eine hypothetische Vorstellung, die man im konkreten Fall im Hier und Jetzt nicht „physisch“ überprüfen kann. Man kann nämlich weder physisch überprüfen, ob z.B. irgend welche Botenstoffe vermindert in eine Nervenzelle aufgenommen werden, noch kann man im konkreten Fall physisch überprüfen, ob irgend welche Rezeptoren mehr oder weniger durch eine Substanz blockiert werden. Man kann in keinem Fall eine solche Theorie am Probierstein der Erfahrung im Hier und Jetzt überprüfen (vgl. mit Kant Zitat 10). Das heißt man kann diese Theorie nicht auf der Ebene der Fakten im Hier und Jetzt überprüfen und allgemein gültig beweisen, dass es so ist.

Man kann auch im Fall der Anwendung einer psychologischen Theorie nicht objektiv überprüfen, ob etwa dieser oder jener Komplex sich auf die psychische Störung auswirkt und daher dieses oder jenes psychische Symptom oder psychische Phänomen hervorgerufen wird.

Bei all diesen Theorien (Modellen) handelt es sich  um regulative Prinzipien die nach der Analogie der Erfahrung entwickelt worden sind, die die Zusammenhänge erklären. Es handelt sich also um verschiedene Erklärungen die die jeweiligen Theorien liefern, die ihrerseits dann Anleitungen zu therapeutischen Handlungen geben.

Man sollte sich also in der Psychiatrie nicht täuschen und glauben, dass eine biologische Theorie grundsätzlich einen anderen Stellenwert hat als eine psychologische Theorie. Man kann in keinem Fall eine Theorie objektiv im „Hier und Jetzt“ überprüfen – man kann lediglich aus dem weiteren Verlauf, nach dem man die erlangten Handlungsanleitungen zur Anwendung gebracht hat – auf der Grundlage der Erfahrung erkennen, ob die hypothetisch angenommene Erklärung (subjektiv) „richtig“ war oder nicht. Bei solchem Wissen handelt es sich immer um subjektives Wissen das relatives Wissen ist.

Zu keiner Zeit gilt eine solche Theorie absolut und es hat daher neben dieser Theorie eine andere Theorie auch ihren relativen Wert und ihre relative Bedeutung. In diesem Sinn gibt es beim Erkennen auf der Ebene der Ideen kein „entweder – oder“, wie dies bei Fakten bzw. bei den objektiven Befunden etwa in der Medizin gelegentlich der Fall ist.

Dieser Relativität und Beschränktheit der Erkenntnisse sollt man sich in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) besonders bewusst sein – wenn gleich auch in der Medizin vieles von dem was man weiß auch nur relatives Wissen und nicht absolutes Wissen ist. (vgl. mit Jaspers Zitat 5)

Wenn man sich dieser Relativität der Erkenntnisse nicht bewusst ist, dann ist man leicht geneigt die subjektiv erlangte Erkenntnis zu hoch zu bewerten – sprich man ist dann geneigt die subjektive Erkenntnis als allgemein gültige Erkenntnis anzusehen. In der Philosophie spricht man dann vom konstitutiven Gebrauch einer Idee. Tatsächlich ist der konstitutive Gebrauch einer Idee jedoch falsch (vgl. mit Kant Zitat 3a).

Tatsächlich kann man nicht wirklich wissen – ob konkret dieser oder jener Sachverhalt zutreffend ist, ob diese oder jene Theorie zutreffend ist und in welchem Ausmaß sie zutreffend ist. Daher sollte man solche Ideen immer nur relativistisch verwenden (vgl. mit Kant Zitat 3a). Man sollte also das eigene Wissen in der Schwebe halten – wie dies Karl Jaspers formuliert hat. (vgl. mit Jaspers  Zitat 2) – nur dann wird man den bestmöglichen Nutzen erlangen – nur dann wird man den Zweck bzw. das Ziel bestmöglich erreichen. (vgl. mit Kant Zitat 2)

Im andern Fall gerät man in Widersprüche (vgl. mit Kant Zitat 3) bzw. in Antinomien (vgl. mit Jaspers Zitat) und damit wird man das Ziel – in der Heilkunde die bestmögliche Behandlung verfehlen – weil man zu wenig flexibel ist und damit nicht die bestmögliche Lösung findet. Man sollte also auf der Grundlage der Vernunft bzw. mit Hilfe des Hausverstandes die bestmögliche Vorgehensweise und damit die bestmögliche Behandlung finden.

Im Bereich der nicht überprüfbaren Ideen gilt also das „sowohl als auch“ und nicht das „entweder-oder“ wie dies auf der Ebene der körperlichen Fakten der Fall ist. Dieses Sachverhalts sollte man sich in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) besonders bewusst sein – dann wird man die Ideen richtig verwenden und dann werden sie nur von Vorteil sein. (vgl. mit Kant Zitat 4)

Es spielt hierbei also das kritische Erkennen und damit auch die ärztliche Kunst bzw. die therapeutische Kunst eine große Rolle und wird das Bestmögliche nur erlangt – wenn man der Natur nach allen Prinzipien der Einheit bis in ihr Innerstes nachgeht (vgl. mit Kant Zitat 2) – wenn man also alle möglichen und alle relevanten Ideen auf die geistige Waagschale legt, um auf diesem Weg herauszufinden was am besten zu tun ist.

Man erkennt damit, dass die Leitlinien,wie sie in der psychiatrischen Wissenschaft auf der Grundlage von statischen Studien erarbeitet worden sind, für den konkreten Fall nur beschränkt von Nutzen sind und nur beschränkt von Nutzen sein können – und wie daneben auch andere Kriterien zu berücksichtigen sind, eben wie sich diese aus dem konkreten bzw. individuellen Fall ergeben.

Auf diese Art und Weise sollte man beim diagnostischen Erkennen und beim therapeutischen Handeln flexibel bleiben, um das Ziel und damit den Zweck (vgl. mit Kant Zitat 2), nämlich die bestmögliche Behandlung zu erreichen.

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(letzte Änderung 15.08.2020, abgelegt unter: Psychiatrie, biologische Psychiatrie, Psychotherapie, Therapie)

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