relatives Wissen – in der Psychiatrie und Medizin

In der Medizin kann in vielen Bereichen nur relatives Wissen erlangt werden. In der Psychiatrie kann fast ausschlichlich nur relatives Wissen erlangt werden. Dies hat damit zu Tun, dass psychiatrisches Wissen (so wie psychologisches und psychotherapeutisches Wissen) zum allergrößten Teil auf Erscheinungen (psychischen Phänomenen) beruht, wogegen medizinisches Wissen oftmals auf körperlichen Fakten beruht.

Körperliche Fakten können auf der Grundlage von körperlichen Krankheitszeichen, die sich direkt auf den Körper beziehen objektiv bestimmt werden. Daher ist solches Wissen absolut und nicht relativ gültig. Jede Fachperson stimmt mit diesem Wissen überein (z.B. sichtbarer Knochenbruch, ein Laborwert). In der Medizin besteht allerdings dort wo das Wissen sich allein auf Symptome und Phänomene gründet eine gleichartige Situation wie in der Psychiatrie.

In der Psychiatrie kann nur ganz selten und in beschränktem Umfang objektives Wissen erlangen werden, z.B. kann die Frage geklärt werden, ob ein Rauschzustand durch Alkohol bedingt ist oder nicht, oder es kann sonst eine psychische Störung auf eine körperliche Ursache zurückgeführt werden (siehe die Diagnosen der 1. Schicht nach der Schichtenregel von Karl Jaspers.)

In der Regel kann man in der Psychiatrie nur relatives Wissen in Bezug auf ein psychiatrisches Konzept erlangen. Man kann also nur relatives Wissen in dem Sinne erlangen, dass man das klinische Erscheinungsbild, das man in seiner Vorstellung gewonnen hat mit einem anderen klinischen Erscheinungsbild vergleicht. So vergleicht man z.B. ob der vorliegende Zustand dem Krankheitsbild entspricht, wie dieses im Lehrbuch beschrieben wird. Wenn man schließlich zum Ergebnis gelangt, dass eine Übereinstimmung besteht, dann wird man die vorliegende psychische Störung nach diesem diagnostischen Schema, wie es im Lehrbuch beschrieben ist, benennen. Wenn das vorliegende klinische Bild diesem Konzept nur teilweise entspricht, dann wird man vielleicht den Fall vielleicht auch so benennen und diagnostizieren, aber wie man sieht trifft das diagnostische Schema dann relativ (verhältnismäßig) weniger zu. Man erkennt, damit dass in der Psychiatrie nur relative Erkenntnisse in Bezug auf angewandte Ideen gewonnen werden können. Mit anderen Worten kann man auch sagen, dass in der Psychiatrie Ideen mit anderen Ideen verglichen werden und aus dem Vergleich dieser Ideen das Ergebnis resultiert.

Daher sind psychiatrische Erkenntnisse nur relative Erkenntnisse und keine absoluten Erkenntnisse.

Dieser Relativität sollte man sich ständig bewusst sein. Wenn man sich dieser Relativität bzw. der Beschränktheit dieser Erkenntnisse nicht bewusst ist, und glaubt eine eindeutige (absolute) Erkenntnis gewonnen zu haben, weil jedenfalls zum Zeitpunkt der Diagnosestellung die Kriterien erfüllt waren – so wie sie im Lehrbuch beschrieben sind – dann gerät man alsbald in Schwierigkeiten.

Wenn sich in weiterer Folge das klinische Bild ändert und die Kriterien, wie sie im Lehrbuch beschrieben sind nicht mehr erfüllt werden – was soll man dann sagen? Hat der Patient dann noch die diagnostisch festgestellte psychische Störung oder hat er sie nicht mehr?

Immanuel Kant spricht in einem solchen Fall vom konstitutiven Gebrauch einer Idee und zeigt auf, dass der konstitutive Gebrauch einer Idee grundsätzlich falsch ist. (vgl. mit Kant Zitat 3a)

Man macht sich die Sache also zu einfach, wenn man glaubt es genügt einmal festgestellt zu haben, ob die diagnostischen Kriterien erfüllt sind und kann dann bei der Diagnose bleiben selbst wenn sich die klinische Erscheinung ändert. Damit täuscht man sich und schadet dem Patienten.

Nicht wenige kritische Patienten wehren sich zu Recht wenn sie auf diese Art und Weise unqualifiziert diagnostiziert und stigmatisiert werden.

Eine derart unkritische Anwendung der psychiatrischen Konzepte sollte tatsächlich  nicht vorkommen, weil damit dem Patienten oftmals mehr geschadet als genützt wird.

Die unkritische Verwendung der psychiatrischen Konzepte führt also zu nachteiligen Konsequenzen und zwar nicht nur für den Patienten. Weiteres dazu finden Sie in diesen Beiträgen.

Auch in der Medizin sollte man sich der Grenzen der Erkenntnisse bewusst sein. Man sollte wissen was man weiß, auf welcher Grundlage man etwas weiß, wie gewiss eine Erkenntnis usf. nur dann wird man das Wissen bestmöglich einsetzen können.

(letztes update 3.10.2010)

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