“ Empirische Urteile, so fern sie objektive Gültigkeit haben, sind Erfahrungsurteile, die aber, so nur subjektiv gültig sind, nenne ich bloße Wahrnehmungsurteile. Die letzteren bedürfen keines reinen Verstandesbegriffs, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmungen in einem denkenden Subjekt. Die erstern aber erfordern jederzeit über die Vorstellungen der sinnlichen Anschauung, noch besondere im Verstande ursprünglich erzeugte Begriffe, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil objektiv gültig ist.
Alle unsere Urteile sind zuerst bloße Wahrnehmungsurteile; sie gelten bloß vor uns, d. i. vor unser Subjekt, und nur hinten nach geben wir ihnen eine neue Beziehung, nämlich auf ein Objekt, und wollen, daß es auch vor uns jederzeit und eben so vor jedermann gültig sein solle; denn wenn ein Urteil mit einem Gegenstande übereinstimmt, so müssen alle Urteile über denselben Gegenstand auch untereinander übereinstimmen* und so bedeutet die objektive Gültigkeit des Erfahrungsurteils nichts anderes als die notwendige Allgemeingültigkeit desselben.
Aber auch umgekehrt, wenn wir Ursache finden, ein Urteil vor notwendig allgemeingültig zu halten (welches niemals auf der Wahrnehmung, sondern dem reinen Verstandesbegriffe beruht, unter dem die Wahrnehmung subsumiert ist), so müssen wir es auch vor objektiv halten, d.i. daß es nicht bloß eine Beziehung der Wahrnehmung auf ein Subjekt, sondern eine Beschaffenheit des Gegenstandes ausdrücke; denn es wäre kein Grund, warum anderer Urteile notwendig mit dem meinigen übereinstimmen müßten, wenn es nicht die Einheit des Gegenstandes wäre, auf den sie sich alle beziehen, mit dem sie übereinstimmen, und daher auch alle unter einander zusammenstimmen müssen.“
Zitat aus Band V, Schriften zur Metaphysik und Logik I, (Prolegomena-Zweiter Teil, Wie ist reine Naturwissenschaft möglich), Gesammelte Werke, Immanuel Kant (Seite 163, 164) suhrkamp Taschenbuchausgabe, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, 1. Auflage 1974, ISBN 3-538-27653-7
* -> vergleiche mit Kant Zitat 9
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Anmerkung zum Zitat:
Immanuel Kant unterscheidet treffend bei den empirischen Urteilen, Urteile, die auf der Grundlage von subjektiver Evidenz erlangt werden, von empirischen Urteilen, die auf der Grundlage von objektiver Evidenz erlangt werden.
Es macht nämlich einen großen Unterschied (vgl. mit Kant Zitat 7), ob das empirische Wissen objektives Wissen oder nur subjektives Wissen (vgl. mit Kant Zitat 9) ist.
Daher der große Unterschied zwischen einem Erfahrungsurteil und einem Wahrnehmungsurteil, insofern das Erfahrungsurteil objektiv gültig, das Wahrnehmungsurteil jedoch nur subjektiv ist, weil dieses vom erkennenden Subjekt abhängig ist.
Demgemäß beruht etwa ein empirisches Urteil das durch die Demonstration z. B. bei einem Experiment erlangt wird auf augenscheinlicher Evidenz, hingegen ein empirisches Urteil das durch das Vorführen von Argumenten bzw. durch die Argumentation einer anderen Person erlangt wird auf einleuchtender Evidenz bzw. auf scheinbarer Evidenz.
Und Immanuel Kant unterscheidet deswegen bezüglich der Wahrscheinlichkeit die mathematische Wahrscheinlichkeit von der philosophischen Wahrscheinlichkeit (vgl. mit Kant Zitat 9b) – was in der Wissenschaft – etwa in Bezug auf die Aussagekraft von Leitlinien in der Medizin und Psychiatrie (Psychologie) – beachtet werden sollte.
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(letzte Änderung 06.09.2020, abgelegt unter: Medizinische Diagnostik, Philosophie, Urteil, Wissenschaft, Zitate)
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