“ § 4. Hirnprozesse.
a) Die organischen Hirnerkrankungen. Die für uns sichtbar zu machenden Hirnprozesse, die sogenannten organischen Hirnerkrankungen, haben fast immer – aber es gibt Ausnahmen – Veränderungen des Seelenlebens zur Folge.
Der psychiatrisch wichtigste derartige Hirnprozeß ist die Paralyse (2). Ihr reihen sich an: organische Hirnerkrankungen des fötalen Lebens und des frühen Kindesalters, in deren Gefolge Idiotie auftritt, Hirntumoren aller Art (Gliome, Zysten, Zystizerken usw.), Abszesse, Encephalitis, Meningitis, Hirnverletzungen, Blutung und Erweichung, verbreitete arteriosklerotische Vorgänge, der anatomisch besondere Typus der Alzheimerschen Krankheit, Hirnlues, multiple Sklerose, Huntingtonsche Chorea u. a. (3). Alle diese Hirnprozesse sind ausschließlich auf Grund körperlicher Symptome gefunden und von einander abgegrenzt worden und mit Sicherheit nur durch körperliche, neurologische Symptome diagnostizierbar.
b) Allgemeine und spezifische Symptome. Unter den neurologischen Symptomen gibt es neben den für bestimmte Krankheiten einigermaßen spezifischen Symptomen (choreatische Zuckungen, Nystagmus, Intentionstremor, skandierende Sprache; reflektorische Pupillenstarre usf.) allgemein verbreitete, die nicht für einen bestimmten Prozeß spezifisch sind; Krampfanfälle, Hirndrucksymptome usf. Die eigentlichen seelischen Veränderungen sind wahrscheinlich für keinen bestimmten Hirnprozeß spezifisch, wenngleich die Häufigkeit, mit der gewisse Veränderungen vorkommen, für die einzelnen charakteristisch ist. So tritt im Verlauf der Paralyse immer eine sehr hochgradige allgemeine Verblödung auf, während diese bei der Arteriosklerose selten ist, vielmehr durch eine „teilweise“ Verblödung bei einer gewissen Erhaltung der ursprünglichen Persönlichkeit ersetzt wird. Vergleicht man jedoch die Erscheinungen bei Hirnprozessen mit den übrigen Psychosen, so haben die Hirnprozesse gewisse charakteristische Symptome, die bei vielen von ihnen oder bei allen vorkommen.“
aus:
Karl Jaspers: “Allgemeine Psychopathologie”, 9. unveränderte Auflage, Springer-Verlag Berlin – Heidelberg-New York 1973, Seite 400
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Anmerkung zum Zitat:
Karl Jaspers weist darauf hin, dass die eigentlichen seelischen Veränderungen … wahrscheinlich für keinen bestimmten Hirnprozeß spezifisch sind wenngleich die Häufigkeit, mit der gewisse Veränderungen vorkommen, für die einzelnen charakteristisch ist.
Wie man sich überzeugt ist dies zutreffend, weil ein psychisches Phänomen – und ebenso auch ein neurologisches Phänomen – „phänomenologisch“ – also durch das Phänomen (= die Erscheinung) erkannt wird.
Es kann daher ein derartiges Erkenntnisobjekt immer nur durch den Begriff der Idee erkannt werden (vgl. mit Kant Zitat 7)
Man kann daher sagen, dass in der Psychiatrie und auch in der Neurologie eine Veränderung des Seelenlebens immer nur auf der Grundlage der Phänomenologie bzw. auf der Grundlage der Psychopathologie erkannt werden kann.
Daher ist die diagnostische Einheit – in der Psychiatrie und auch in der Neurologie – eine systematische Einheit, die von der Fachperson erkannt wird, wenn sie die Merkmale der Idee (der psychiatrischen Idee und ebenso der neurologischen Idee) – durch das Schema der jeweiligen Idee geistig auffasst (vgl. mit Kant Zitat 7).
Dabei gilt, dass ich das Ganze als Idee nicht geradezu erkennen kann, sondern ich mich dem Ganzen als Idee durch das Schema der Idee nur nähern kann (vgl. mit Jaspers Zitat).
Es gibt zwar die Relation der Psyche mit dem Körper bzw. mit dem körperlichen Substrat – man kann hier auch sagen mit dem Nervensystem und seiner Funktion – der neuronalen Funktion – aber eine gesetzmäßige Beziehung zwischen den beiden – wie Emil Kraepelin dies gelaubt hat, gibt es nicht (vgl. mit Kraepelin Zitat 8).
Dies ist so – weil ein psychisches Phänomen und ebenso ein psychopathologisches Phänomen und auch der ganze charakteristische psychische Symptomenkomplex der psychischen Störung und damit auch die zugehörige psychiatrische Diagnose nur durch die Idee bzw. angenähert durch das Schema der Idee in Bezug auf den (definierten) Typus (vgl. mit Jaspers Zitat ) erkannt werden kann. (Anmerkung: analoges gilt auch in der Neurologie).
Man täuscht sich also, wenn man glaubt, dass eine krankheitswertige psychische Störung – selbst wenn sie hirnorganisch verursacht ist – physisch (biologisch) begründet in der Psychiatrischen Diagnostik bestimmt werden kann.
Selbst die psychiatrischen Diagnosen der tiefsten und untersten 3. Schicht nach der Schichtenregel (Schichtenlehre) von Karl Jaspers können nur durch den jeweiligen psychischen Symptomenkomplex bzw. nur auf der Grundlage der Phänomenologie respektive nur auf der Grundlage der Psychopathologie erkannt und in der Diagnostik bestimmt werden.
Weil bei diesen psychischen Störungen jedoch organische Befunde gefunden werden, ist es möglich, die psychische Störung sekundär dadurch körperlich – also physisch begründet zu erklären und kann man diese psychischen Störungen damit auch organisch verursacht verstehen – aber wie gesagt, die Diagnostik der psychischen Störung beruht allein auf dem jeweiligen klinischen Erscheinungsbild bzw. dem charakteristischen psychischen Symptomenkomplex und nicht auf körperlichen Befunden.
Ja, selbst in der Neurologie findet man, dass auch hier das neurologische Phänomen als solches phänomenologisch – also durch die Phänomenologie – erkannt wird.
Es ist in der Medizinischen Diagnostik in vielen Bereichen der Neurologie also so, wie in der Psychiatrie, dass die diagnostische Einheit durch die Idee bzw. vermittelt durch das Schema der Idee (vgl. mit Kant Zitat 7) erkannt wird, in dem dieses Schema auf den neurologischen Sachverhalt angewandt bzw. projiziert wird.
Dies trifft etwa auf die neurologische Diagnose Migräne zu und es trifft dies auch auf einen zerebralen Insult (Gehirnschlag, Schlaganfall) zu, und es folgt auch hier die Erklärung der neurologischen Störung erst sekundär im Fall des zerebralen Insults durch den körperlichen bildgebenden Befund, wohingegen im Fall der Migräne kein solcher körperlicher Befund im Rahmen der Abklärung gefunden und geliefert werden kann.
In Bezug auf das Erkennen der gesundheitlichen Störung bzw. der psychischen Störung kann also festgehalten werden, dass die Hirnorganizität – so wie auch der psychische Befund – durch ein Wahrnehmungsurteil im Sinn von Immanuel Kant erkannt wird und, dass lediglich in gewissen Fällen im Nachhinein der klinische Befund körperlich (physisch) erklärt aber nicht in der Diagnostik bestimmt werden kann.
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(letzte Änderung 31.12.2016, abgelegt unter Diverses, Neurologie, Psyche, Psychiatrie, Zitate)
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