Jaspers Zitat 6a – natürliche Krankheitseinheiten – Frage der Einheitspsychose

“ …, so bedrängt doch die Psychopathologie seit altersher die Frage: Wie findet sich denn alles im Einzelfall zusammen? Welche Krankheit, d.h. Krankheitseinheit liegt denn vor? Welche Krankheitseinheiten gibt es? Der Psychiater als Analytiker zergliedert einen Fall nach allen Richtungen, der Psychiater als Kliniker will eine Diagnose machen. Seit altersher ist auf diese Frage in doppeltem Sinne geantwortet. Die einen trugen die Lehre von der Einheitspsychose vor: es gibt gar keine Krankheitseinheiten in der Psychopathologie, es gibt eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Variationen des Irreseins, die überall und nach allen Richtungen fließend ineinander übergehen. Die anderen lehrten: es ist die Hauptaufgabe der Psychiatrie, die natürlichen Krankheitseinheiten zu finden, die prinzipiell voneinander getrennt sind, denen Symptomatologie, Verlauf, Ursache und körperlicher Befund charakteristisch gemeinsam sind, zwischen denen keine Übergänge bestehen.

Obgleich der Kampf zwischen beiden Richtungen immer mit großer gegenseitiger Verachtung geführt wurde, obgleich jeder immer von dem gänzlichen Fiasko überzeugt ist, das die Bestrebungen des anderen erlitten haben, werden wir doch aus der historischen Tatsache, daß dieser Kampf nur scheinbar, nie wirklich aufgehört hat, die Vermutung entnehmen, daß beide Teile etwas Richtiges wollen und, statt sich zu befehden, sich ergänzen können.“

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das Zitat stammt aus dem Kapitel: „Die Synthese der Krankheitsbilder“

„Allgemeine Psychopathologie ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen“ von Dr. Karl Jaspers, Wiss. Assist. an der psychiatrischen Klinik in Heidelberg , S. 257, Berlin, Verlag von Julius Springer,1913

(Anmerkung: es war dies die 1. Ausgabe der “Allgemeinen Psychopathologie”)

Nachdruck Klessinger Publishing, LLC, ISBN 9781166770122

In der letzten Ausgabe der „Allgemeinen Psychopathologie“ – der neunten, unveränderten Auflage, Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1973, ISBN 3-540-03340-8, ISBN 0-387-03340-8, findet sich diese Textstelle in leicht modifizierter Form auf den Seiten 471 – 472

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(letzte Änderung 17.04.2018, abgelegt unter: Einheit, Zitate)

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Anmerkung zum Zitat:

Erkenntnistheoretisch bzw. philosophisch betrachtet erkennt man, dass der Begriffnatürliche Krankheitseinheit“ in der Psychiatrie ein psychiatrisches Konzept ist. Man kann auch sagen: der Begriff der „natürlichen Krankheitseinheit“ ist in der Psychiatrie ein regulatives Prinzip – im Sinn von Immanuel Kant – durch das ich einen gewissen psychischen Zusammenhang erkennen und verstehen kann.

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(Weiteres dazu auf dem Vortrag gehalten am DGPPN Kongress 2014 in Berlin als Power Point Präsentation)

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