Dialektik in der psychiatrischen Wissenschaft

Die Erkenntnisse in der psychiatrischen Wissenschaft werden auf der Grundlage der Unterschiede der Ideen erkannt. Das heißt das Wissen in der psychiatrischen Wissenschaft – wird – so wie das Wissen in der psychiatrischen Praxis – dialektisch gewonnen.

Das Wissen entsteht in der Psychiatrie und in der Psychologie auf der Grundlage der Gegensätze der Ideen. (vgl. mit Jaspers Zitat 9)

Die psychiatrische Wissenschaft begann in Europa nachdem Philippe Pinel (1745-1826) in Frankreich durch die Methode der Dialektik angefangen hatte psychische Störungen auf der Grundlage von unterschiedlichen psychischen Phänomenen zu erfassen.

In Deutschland hatte Wilhelm Griesinger (1817-1886) einge Zeit später eine erste psychiatrische Nosologie bzw. psychiatrische Systematik auf der Grundlage der unterschiedlichen psychischen Phänomene geschaffen.

Wilhelm Griesinger hatte herausgefunden, dass man psychische Krankheiten nur auf der Grundlage der psychischen Anomalie voneinander unterscheiden und diagnostisch erfassen kann. (vgl. mit Griesinger Zitat)

Auf der Grundlage dieser dialektischen Unterscheidung der psychiatrischen Ideen nach der psychischen Anomalie hat Wilhelm Griesinger 3 Hauptgruppen definiert. (Weiteres dazu in diesem Beitrag)

Wilhelm Griesinger unterschied also dialektisch drei Gruppen von psychischen Störungen die er als Hauptgruppen bezeichnete:

psychische Depressionszustände

psychische Exaltationszustände

psychische Schwächezustände

So entwickelte sich die psychiatrische Systematik auf der Grundlage der unterschiedlichen psychischen Symptomenkomplexe bzw. auf der Grundlage der unterschiedlichen psychiatrischen Ideen. Damit war die Basis für die psychiatrische Wissenschaft geschaffen. (Weiteres siehe dazu diesen Beitrag)

Wilhelm Griesinger hat selbst weitere Untergruppen zu den von ihm eingeführten Einheiten gebildet, und es haben die ihm später nachfolgenden Fachleute weitere Differenzierungen vorgenommen. Zum Teil wurden auch neue bzw. andere diagnostische Einheiten in die Nosologie eingeführt.

Es sind also ausgehend von diesen 3 Hauptgruppen bzw. deren Untergruppen weitere diagnostische Einheiten in der Psychiatrie entstanden bzw. definiert worden.

Betrachtet man die einzelnen diagnostischen Einheiten in der Psychiatrie so findet man, dass sämtliche Einheiten auf der Grundlage von unterschiedlichen Symptomenkomplexen – nach der Art und Weise der psychischen Anomalie – definiert worden sind. (vgl. mit Griesinger Zitat)

Philosophisch betrachtet findet man, dass es sich bei diesen 3 Hauptgruppen bzw. auch bei den Einheiten der Untergruppen um  systematische Einheiten im Sinne von Immanuel Kant handelt. Tatsächlich gründet sich die psychiatrische Diagnostik und damit auch die psychiatrische Systematik auf solche systematische Einheiten, die die einzelnen Einheiten einer psychiatrischen Nosologie bilden. Philosophisch betrachtet kann man auch sagen, dass es sich bei diesen diagnostischen Einheiten um psychiatrische Ideen handelt, durch die die Vielfalt der krankheitswertigen psychischen Erscheinungen systematisch gegliedert und systematisch aufgefasst wird. Man kann nämlich durch die Definition von solchen Einheiten, und sodann durch die diagnostische Anwendung dieser Einheiten auf die Gesamtheit der krankheitswertigen psychischen Auffälligkeiten diese systematisch unter verschiedenen Gesichtpunkten auffassen, wie dies Karl Jaspers in seiner „Allgemeinen Psychopathologie“ dargestellt hat (vgl. mit Jaspers Zitat 11) . Mit anderen Worten unterschiedliche Symptomenkomplexe können durch denkende Anschauung mit Hilfe der unterschiedlich definierten Einheiten systematisch aufgefasst werden. (vgl. mit Jaspers Zitat)

Da psychische Störungen auf der Grundlage der psychischen Anomalie durch die unterschiedlichen psychischen Phänomene erkannt werden, die die charakteristischen Merkmale der einzelnen Symptomenkomplexe sind – kann man philosophisch betrachtet – sagen, dass die psychischen Störungen auf der Grundlage von mentalen Erkenntnisobjekten erfasst werden. Diese Erkenntnisobjekte erscheinen jeweils im Bewusstsein der erkennenden Person in der Form der zugehörigen Begriffe.

Im Gegensatz zu körperlichen Merkmalen können also psychische Merkmale nur auf der mentalen Ebene erfasst werden bzw. können diese Erkenntnisobjekte nicht physisch überprüft werden, wie dies bei vielen körperlichen Merkmalen der Fall ist.

Karl Jaspers (1883 – 1969) hat als junger Psychiater erkannt, dass es sich bei den psychischen Merkmalen bzw. bei den psychiatrischen Ideen um (bloße) Ideen im Sinne von Immanuel Kant handelt. (vgl. mit Jaspers Zitat)

Weil es sich bei den psychiatrischen Ideen (und auch bei den psychologischen Ideen und auch den psychotherapeutischen Ideen) um bloße Ideen im Sinne von Immanuel Kant handelt (vgl. mit Kant Zitat 4)  – kann man sagen, dass die Nosologie in der Psychiatrie auf der Grundlage von bloßen Ideen im Sinne von Immanuel Kant entstanden und aufgebaut ist.

Dabei sind die einzelnen diagnostischen Einheiten systematische Einheiten, die auf der mentalen Ebene auf der Grundlage der unterschiedlichen psychischen Symptome und psychischen Phänomene definiert sind. Die Abgrenzungen der einzelnen Einheiten gegeneinader werden also durch die Definitionen der einzelnen psychiatrischen Kategorien gebildet, die die Schemata dieser diagnostischen Ideen sind. (vgl. mit Jaspers Zitat und Kant Zitat 4) (Weiteres dazu auf Poster 5: siehe insbesondere die dortigen Figuren – verwende dort die Bildvergrößerung)

Dies ist beispielsweise bei den Kategorien der psychiatrischen ICD-10 Klassifikation der Fall. Daher kann man berechtigt sagen, dass die psychiatrische Nosologie bzw. die psychiatrische Klassifikation, oder man kann auch sagen die psychiatrische Systematik dialektisch gegliedert und definiert ist. (vgl. mit Jaspers Zitat 9)

Man erkennt damit, dass die psychiatrischen Krankheitseinheiten bzw. die Kategorien der psychiatrischen Diagnosen – völlig unabhängig von einer, etwa zu Grunde liegenden körperlichen Ursache oder körperlichen Mitverursachung – allein auf der Grundlage der Ideen bzw. auf der Grundlage der unterschiedlichen psychischen Symptomenkomplexe durch die Methode der Dialektik definiert worden sind auf dieser Grundlage bestimmt werden können. Dies ist auch heute noch der Fall. Auch heute sind die psychischen Störungen bzw. die psychiatrischen Diagnosen auf der Grundlage der psychischen Anomalie definiert – wie dies aus den Kategorien der ICD und DSM Klassifikation ersichtlich ist – und werden sie auch auf dieser Grundlage diagnostisch bestimmt.

In diesem Sinne ist beispielsweise ist in der jüngeren Vergangenheit die systematische Einheit ADHS in die Klassifikation der Erwachsenenpsychiatrie aufgenommen worden, und handelt es sich auch dabei um eine systematische Einheit, die rein phänomenologisch – philosophisch gesprochen – als bloße Idee definiert ist.

Auch in der täglichen Umgangsprache erfassen wir verschiedene Sachverhalte auf diese Art und Weise dialektisch. Wir unterscheiden zwischen groß und klein, zwischen dick und dünn, zwischen lang und kurz, zwischen glücklich und unglücklich zwischen traurig und fröhlich usf. All diese Erkenntnisse erlangen wir auf der Grundlage von mentalen Erkenntnisobjekten, die in der Form dieser Begriffe in unserem Bewusstsein erscheinen (vgl. mit Kant Zitat 7) und werden all diese Größen bzw. Einheiten dialektisch erfasst.

Oder man kann auch sagen all diese Erkenntnisse erlangen wir auf der Grundlage der „zerspaltenen Gegensätze“ – wie diese Karl Jaspers formuliert hat. (vgl. mit Jaspers Zitat 11).

So erfassen wir und verstehen wir die Dinge in Folge der Polarisierung nach Gegensätzen, die aus den jeweiligen Begriffen resultieren. Dabei sind mache dieser Begriffe explizit definiert, wogegen andere Begriffe nur implizit durch den Sprachbebrauch definiert sind. Man kann daher auch sagen: wir erfassen viele Dinge die nach Typen geordnet und unterschieden werden, auf der mentalen Ebene, in dem wir die Erkenntnisobjekte dialektisch unterscheiden. In diesem Sinne werden die unterschiedlichen Erscheinungen (Phänomene und Symptome) in der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie dialektisch erfasst.

Im Gegensatz dazu werden in der körperlichen Medizin – in dem Teilbereich, wo die Diagnosen auf der Grundlage von körperlichen Befunden objektiv feststellbar sind – diese nicht auf der Grundlage von Erscheinungen (Phänomenen), sondern auf der Grundlage von objektiven Befunden erfasst, die sich direkt auf die Körperlichkeit beziehen. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Es gibt also einen grundlegenden Unterschied in der Erkenntnisbasis. Es gibt Erkenntnisse in der Heilkunde, die sich direkt auf die Körperlichkeit beziehen, und die auf dieser Grundlage objektiv und damit allgemeingültig bestimmt werden können – und andererseits Erkenntnisse, die nicht direkt auf der Grundlage der Körperlichkeit diagnostisch bestimmt werden können, weil wir diese Erkenntnisobjekte nur in der Form der Schemata der zugehörigen Ideen, nämlich auf der Grundlage der Begriffe dieser Ideen erfassen können. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Das heißt wir erlangen auf diese Art und Weise die Begriffe der psychischen Symptome und psychischen Phänomene im Rahmen der psychiatrischen Untersuchung. Diese Erkenntnisobjekte sind uns also nur als mentale Objekte gegeben, bzw. sind uns diese Erkenntnisobjekte nur als Gegenstand in der Idee zur Erkenntnis gegeben.

Im Gegensatz dazu sind die zuvor genannten körperlichen Merkmale bzw. die allgemein gültig feststellbaren objektiven Befunde uns als physische Objekte bzw. als Gegenstände schlechthin zur Erkenntnis gegeben. (vgl. mit Kant Zitat 7)

In diesem Sinne beruht nicht nur die psychiatrische Praxis sondern auch die psychiatrische Wissenschaft auf einer dialektischen Grundlage.

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Weiteres, insbesondere über die Konsequenzen, finden Sie im blog: Konsequenzen.

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(Beitrag in Arbeit, letztes update 14.8.2011)

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