Alles Erkennen gründet sich auf den Vergleich von Informationen.
Sei es eine Biene, die zurück in den Bienenstock findet, ein Mensch, der einen anderen Menschen wiederekennt, oder ein Arzt, der eine Krankheit erkennt – immer geht es dabei um einen Vergleich von Informationen.
Beim Diagnostizieren erkennt ein Arzt ein Krankheitsbild, wenn er schon zuvor einen gleichartigen Fall gesehen hat oder wenn er das Krankheitsbild aus dem Lehrbuch kennt und den konkreten Fall der entsprechenden Krankheitseinheit richtig zuordnet.
Bei uns Menschen ist das abstrakte Denkvermögen entwickelt und findet man daher in allen menschlichen Sprachen konkrete und abstrakte Begriffe.
Immanuel Kant beschreibt in seinen gesammelten Werken, wie ein Wanderer in der Ferne ein Objekt sieht, welches eventuell ein Haus sein könnte und wie er dieses Objekt beim Näherkommen mehr und mehr als Haus identifiziert, – das Kamin des Hauses als solches erkennt, – dann den aufsteigenden Rauch aus dem Kamin bemerkt, – die Fenster erkennt etc. bis er davon überzeugt ist, dass es sich beim Objekt in der Ferne um ein Haus handelt…..
Der Wanderer hat also schon vorweg, bevor er das Haus in der Ferne als solches erkennt, eine abstrakte Vorstellung wie ein Haus “aussieht”, – was charakteristisch für ein Haus ist und indem er dem Objekt in der Ferne näher kommt, erkennt er mehr und mehr die Merkmale eines Hauses. So erkennt er beim Näherkommen, dass es sich beim Objekt in der Ferne um ein Haus handelt.
Gleicherweise erkennt auch ein Arzt, wenn er mit einem Kranken befasst ist im Laufe der Untersuchung mehr und mehr ob gewisse Merkmale vorliegen, welche die charakteristischen Merkmale einer Krankheitseinheit ausmachen, und er erkennt damit im Prozess des Diagnostizierens die Krankheit bzw. die Krankheitsstörung.
Es gibt in Bezug auf diese Merkmale Unterschiede insofern, dass manche von ihnen physischer Natur und damit vorzeigbar oder indirekt vorzeigbar sind, und andere Merkmale nicht physischer Natur sind und daher auch nicht in diesem Sinne vorzeigbar sind.
Im Falle des Erkennens einer sogenannten somatischen Krankheit sind es gewisse körperliche (somatische) Merkmale, also physisch sichtbare Merkmale (z.B. eine Rötung, eine Schwellung etc.) oder indirekt vorzeigbare Merkmale (ein auffälliger Röntgenschatten von Gewebsverdichtungen: von einer Lungenentzündung, von einem Tumor) oder abnorme Laborparameter (welche quantifiziert ermittelt werden können etc.) feststellbar, welche den Anlass zur somatischen Diagnose geben bzw. die initiale Verdachtsdiagnose bestätigen.
Da diese Merkmale von jeder fachkundigen Person – da sie real physisch existent sind – gleich erkannt werden, sind diese Merkmale zweifelsfrei bestimmbar und damit objektiv. Als Folge davon ist auch der logische Schluss von diesen Merkmalen auf die Krankheitseinheit gewiss und ist damit die gestellte Diagnose objektiv gewiß und gesichert. Mit anderen Worten alle fachkundigen Personen stimmen in einem solchen Fall in der diagnostischen Einschätzung, im diagnostischen Urteil überein.
(Anmerkung: Wie hinlänglich bekannt ist, gibt es natürlich auch in der somatischen Medizin diagnostische Probleme bei der Bestimmung und Zuordnung von Grenzfällen, ob beispielsweise der vorliegende Krankheitszustand “noch dieser” oder bereits “jener”, also einer anderen Krankheitseinheit zuzuordnen ist (z.B ob das Zellbild eines Blutausstrichs noch einer lymphatischen Leucämie zuzuordnen ist oder bereits einer myeloischen Leucämie etc.).
Grundsätzlich kann jedoch festgehalten werden, dass gesicherte somatische Diagnosen sich auf vorzeigbare bzw. indirekt vorzeigbare Merkmale gründen, welche ihrerseits objektiv gewiss bestimmt werden können.
Im Gegensatz dazu, gründen sich psychiatrische Diagnosen nicht auf vorzeigbare bzw. indirekt vorzeigbare Merkmale, sondern handelt es sich hierbei um Merkmale, welche der Erkennende nur in seiner Vorstellung gewinnt. Das heisst der Erkennende gewinnt, als Folge der Informationen, die er im Rahmen der Untersuchung gewinnt (dem Bericht der Person, der Art und Weise wie die Person berichtet, der Stimme, Tonfall, dem Auftreten, der Art und Weise wie sie sich äußert etc. und infolge des Inhaltes dieser Informationen) einen “Eindruck” bzw. ein ”Bild” vom Patienten.
Dieses “Bild” gründet sich auf verschiedene Phänomene (griechisch: phenomenon – ein sich Zeigendes, ein Erscheinendes), welche insgesamt das klinische Bild ausmachen. Einzelne Phänomene sind: z.B. die Art und Weise wie die Person ihre Gedanken vorträgt, ob sie diese flüssig vorträgt oder mit abrupten Unterbrüchen, welche offensichtlich nicht natürlich entspringen und schliesst der Untersucher aus derartigen Gegebenheiten z.B. darauf, dass der Gedankengang der Person normal, noch normal oder krankhaft “sprunghaft” ist etc. Gleicherweise bewertet der Untersucher, auf der Grundlage seiner klinischen Erfahrung (indem er den aktuellen Sachverhalt mit seinen Vorerfahrungen mit ähnlichen Fällen vergleicht), ob die Gedankeninhalte “normal”, “grenzwertig normal” oder als “krankhaft” zu bewerten sind. Beispielsweise ob die Person nur überdurchschnittlich von ihren Ideen eingenommen ist, ob es sich um “überwertige Ideen” handelt, oder ob es sich um eine manifeste “wahnhafte Störung” handelt. Oder in Bezug auf die Gestimmtheit, ob die Person stimmungsmäßig ”bedrückt” ist oder ob bereits die Kriterien einer “depressiven Störung” vorliegen.
All diese Merkmale sind nicht physischer Natur (materieller Natur), sondern es sind “mentale Merkmale”, also Ideen, zu denen der Untersucher in seiner Vorstellung im Rahmen des Untersuchungsganges gelangt und die in der physischen Wirklichkeit kein Korrelat haben aus dem sich unmittelbar die Merkmale ergeben. Mit anderen Worten, der Untersucher kann diese Merkmale, die er bei einer anderen Person infolge seiner eigenen Auffassung und Denkvorgänge feststellt nicht weiter begründen, er kann sie auch nicht vorzeigen, da sie ja tatsächlich nicht vorzeigbar sind, sondern er kann nur die Ansicht vertreten, dass er deren Feststellung für gerechtfertigt erachtet.
Mit nochmals anderen Worten: die vorgenannten Merkmale sind “ideeller” , rein “geistiger” Natur – wenn gleich sie infolge von realen sinnlichen Wahrnehmungen entstanden sind.
Immanuel Kant sagt:
“So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen.”
Es ist also so, dass der Untersucher infolge seiner Vorkenntnisse, infolge seiner klinischen Erfahrung und der Fachkenntnis, der Kenntnis der Fachtermini und infolge der Anschauung also seiner sinnlichen Wahrnehmung, zu den Urteilen gelangt ist, dass bei der Person dieses oder jenes Phänomen vorhanden ist, welches ein charakteristisches Merkmal einer psychiatrischen Krankheit (Störung) bildet. Aus der Gesamtheit dieser Merkmale (Begriffe) schließt er sodann auf das Vorhandensein der Störung (Krankheit) und gelangt er damit zur Vorstellung (Idee) was die Person in gesundheitlicher Hinsicht ”hat”.
Die vorgenannten mentalen Merkmale (Phänomene) entstehen also auf der Grundlage, dass die erkennende Person im Laufe der Besprechung infolge der Informationen (dem Erscheinungsbild, der Mimik, der Gestik, der sprachlichen Mitteilungen, dem formalen Gedankengang, den Gedankeninhalten etc.) zu Begriffen also zu Worten gelangt, welche ihrerseits dann Anlass zur Feststellung einer psychiatrischen Diagnose geben.
Man kann auch sagen, dass sich aus der Gesamtheit dieser Merkmale – dem Symptomenkomplex – die Diagnose ergibt bzw. dass der Untersucher unter der Krankheitseinheit die Symptome auffasst bzw. subsumiert.
Zum Beispiel die Feststellung, ob jemand depressiv ist oder nicht depressiv ist, leitet der Erkennende aus dem Erscheinungsbild, dem Auftreten, dem sprachlichen Ausdruck, der kraftlosen Stimme, der Mimik, der Gestik und den psychischen Symptomen: der mitgeteilten Lustlosigkeit, Interessensverlust, Verminderung des Antriebs, Schlafstörungen, Leistungsabfall, Ängste bis hin zur Verzweiflung ……usf. ab.
Wie man sieht, stecken in den psychischen Phänomenen die Wahrnehmungsurteile des Untersuchers und sind dem Untersucher die Phänomene nicht “an sich als Erkenntnisgegenstände” gegeben.
Vielmehr handelt es sich um Erscheinungen, die sich in seinem Bewußtsein als Folge seiner sinnlichen Wahrnehmung und Denkungsart ergeben.
Es ist also so, dass der Untersucher, welcher schon Eingangs der Untersuchung einen initialen “Eindruck” von der Person gewonnen hat, aus der Schilderung und den Antworten auf die einzelnen Fragen, im Laufe der Untersuchung, die Diagnose ableitet und dabei eventuell auch noch die Zusatzinformationen von Drittpersonen mitberücksichtigt hat. Aus der Gesamtheit dieser Informationen gelangt er sodann zur Diagnose, z.B. dass bei der Person eine depressive oder sonstige psychische Störung vorliegt.
Auch bei der Feststellung einer somatischen Diagnose ist es so, dass die eigentliche Erkenntnis der Diagnose im Bewußtsein des Untersuchers stattfindet und die Diagnose sich nicht unmittelbar aus der Anschauung ergibt. Auch hier ist es so, dass der Untersucher erst über die Begriffe, welche für die krankheitsspezifischen Merkmale stehen, zur Feststellung der Diagnose gelangt. Da es sich bei diesen Merkmalen jedoch um reale physische Merkmale handelt, werden dieselben von jeder fachkundigen Person als solche erkannt und ist damit dann eben die Diagnose gewiss bzw. objektiv bestimmt.
Es ist also so, dass gewisse somatische Diagnosen tatsächlich objektiv bestimmt werden können. (vergleiche mit Kant Zitat 6)
(Ein somatisches Beipiel: Bei der Diagnose Herzinfarkt ist die Einheit “Herzinfarkt” dem Untersucher nicht als ”Gegenstand schlechthin” (im Kant`schen Sinne, vergleiche Kant Zitat 6) gegeben. Sondern ist mit dem Begriff “Herzinfarkt” eine Vorstellung gemeint unter der das “klinische Bild” mit all seinen “Zusatzbefunden” (EKG Befunden, Laborbefunden etc.) aufgefasst wírd. Wie bekannt ist ergibt sich die Feststellung ob jemand einen Herzinfarkt erlitten hat erst aus dem Nachweis der krankheitsspezifischen Merkmale, den typischen EKG Befunden, den typischen Laborbefunden und kann erst nach Vorliegen dieser Befunde entschieden werden ob die Diagnose “Herzinfarkt” zutrifft oder nicht.
Immanuel Kant unterscheidet also Ideen, welche sich auf tatsächliche, wirkliche Objekte (”Gegenstände schlechthin”) beziehen von Ideen, die sich nicht auf wirkliche Gegenstände beziehen. Die letzt genannten Ideen nennt I. Kant ”bloße Ideen”. (vergleiche Kant Zitat 4)
Bei der Verdachtdiagnose “Herzinfarkt” handelt es sich vorerst auch um eine Idee, welche bis auf weiteres noch nicht gesichert ist. Wenn dann aber die typischen EKG-Zeichen aufzeigbar sind und auch die typischen Laborbefunde (Enzymwerte) vorliegen, steht zweifelsfrei die Diagnose “Herzinfarkt” fest. Damit ist die Idee (Verdachtsdiagnose) gesichert und bezieht sich diese Idee auf einen realen physichen Sachverhalt im Sinne eines “Gegenstandes schlechthin”, wenn damit der Verschluß in der Koronararterie gemeint ist (vergleiche mit Kant Zitat 6)
Wenn ein Psychiater sagt, dass eine Person “depressiv” ist, so ist es nicht gewiss, dass auch andere Psychiater zu derselben Einschätzung gelangen bzw. sich dieser Einschätzung anschließen und kann diese Diagnose, nicht objektiv bestimmt werden. Zu erwarten ist allerdings, dass in den Fällen, in denen die Phänomene sehr ausgeprägt sind, auch andere Psychiater, zur selben diagnostischen Einschätzung (Feststellung) gelangen, falls sie sich derselben Klassifikation bedienen.
Wie man sich leicht überzeugt, sind sämtliche psychologischen (psychiatrischen) Ideen, “bloße Ideen” in diesem Sinn. Weiters sind auch sämtliche Kategorien, wie sie die psychiatrische ICD-10 Klassifikation und DSM-IV Klassifikation bilden “bloße Ideen” und ebenso sind auch alle psychologischen Theorien, z.B. diejenigen von Sigmund Freud, diejenigen von C. G. Jung, Alfred Adler etc. sämtliche ”bloße Ideen” beziehungsweise “Bündel” von ”bloßen Ideen”, die zusammen eine komplexere “bloße Idee” bilden.
Es sei also nochmals festgehalten, dass diese Erkenntnisgegenstände dem Erkennenden jeweils nur in seiner Vorstellung gegeben sind und, dass daher nur Personen, die den Sachverhalte ähnlich auffassen zur gleichen Erkenntnis gelangen.
Dieser Grundtatsache sollte man sich bewußt sein, wenn man als Psychiater, als Psychologe oder als Psychotherapeut tätig ist.
Wir sind in unserm Beruf mit “bloßen Ideen” befasst, also mit Vorstellungen, die sich in unseren Köpfen darstellen und außerhalb unserer Köpfe kein physisches Korrelat haben. Man soll sich also diese Einheiten nicht als etwas “Wirkliches” vorstellen, sondern handelt es sich bei diesen “Einheiten” um etwas zugrunde “gelegt” Gedachtes – um “projektierte Einheiten” im Kant`schen Sinne (vergleiche Kant Zitat 5)
Das gilt im Übrigen auch für Aussagen wie: Die Person ist “glücklich” oder “unglücklich”, die Person hat einen “Intelligenzquotienten” von 100% etc. all dies sind nur projektierte Einheiten, also “bloße Ideen” um andere Begriffe unter diesen Einheiten aufzufassen.
Wie man sich weiter überzeugen kann, sind diese “bloßen Ideen” jedoch sehr brauchbar und nützlich und verwenden wir laufend in unserem täglichen Leben derartige Ideen um mit anderen Menschen zu kommunizieren und um uns ein “Bild” von den Dingen zu machen – dabei sollen wir uns allerdings der Beschränktheit und Relativität dieser Erkenntnisse bewußt sein (verlg. Kant Zitat 3)
Man kann sagen, dass sich die Psychiatrie als medizinisch wissenschaftliche Disziplin sich eigentlich erst infolge der Entdeckung dieser “bloßen Ideen” entwickeln konnte und entwickelt hat.
Erst durch die Begriffsdefinitionen die Beschreibung der psychischen und psychopathologischen Phänomene, durch die Begriffskreationen: Psychose, Depression, Schizophrenie, Manie, usf. und die schon zuvor vorbekannten Begriffe: Angst, Störung, Prozess, Phase, Schub, Intervall, etc. war es möglich die Mannigfaltigkeit der psychischen Erscheinungen zu beschreiben in Kategorien zu fassen und war es erst in weiterer Folge möglich, die damit gebildeten Krankheitseinheiten zu untersuchen. In diesem Zusammenhang entstanden dann die abgeleiteten Begriffe: “Antidepressiva”, “Neuroleptika”, “Tranquilizer”. So gesehen ist auch die “biologische Psychiatrie” ohne diese “bloßen Ideen” gänzlich unvorstellbar bzw. basiert auch sie selbst auf diesen Erkenntniskategorien.
Wer sich des soeben beschriebenen Sachverhaltes z.B. im Rahmen seiner psychiatrischen Tätigkeit bewußt ist – und bewußt bleibt – wird verschiedene Fehler nicht begehen, die einer Person sehr leicht unterlaufen, wenn sie sich der Herkunft bzw. Basis der psychiatrischen (psychologischen) Erkenntnisgrundlagen nicht bewußt ist.
Wäre zum Beispiel Sigmund Freud sich dessen bewußt gewesen, dass seine Theorien “bloße Ideen” sind – dann wäre er mit seinen Schülern nicht in einen Konflikt geraten. Er hätte dann keinen Anlaß gesehen seinen Schülern und Kollegen zu zürnen als sie ihre eigenen Theorien entwickelt haben, sondern wäre er sich dessen bewußt gewesen, dass man Zusammenhänge auch anders “sehen” kann als er sie selbst ”gesehen” hat.
Ja selbst alle Religionsstreitigkeiten, ob dieser Glaube der “einzig wahre” und “richtige” ist oder der andere der “einzig wahre” und “richtige” ist, würden unterbleiben, wenn die Menschen sich dessen bewußt wären, um was sie sich streiten.
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weiter zur Seite: medizinische Diagnose – psychiatrische Diagnose
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Alles Erkennen gründet sich auf den Vergleich von Informationen.
Sei es eine Biene, die zurück in den Bienenstock findet, ein Mensch, der einen anderen Menschen wiederekennt, oder ein Arzt, der eine Krankheit erkennt – immer geht es dabei um einen Vergleich von Informationen.
Beim Diagnostizieren erkennt ein Arzt ein Krankheitsbild, wenn er schon zuvor einen gleichartigen Fall gesehen hat oder wenn er das Krankheitsbild aus dem Lehrbuch kennt und den konkreten Fall der entsprechenden Krankheitseinheit richtig zuordnet.
Bei uns Menschen ist das abstrakte Denkvermögen entwickelt und findet man daher in allen menschlichen Sprachen konkrete und abstrakte Begriffe.
Immanuel Kant beschreibt in seinen gesammelten Werken, wie ein Wanderer in der Ferne ein Objekt sieht, welches eventuell ein Haus sein könnte und wie er dieses Objekt beim Näherkommen mehr und mehr als Haus identifiziert, – das Kamin des Hauses als solches erkennt, – dann den aufsteigenden Rauch aus dem Kamin bemerkt, – die Fenster erkennt etc. bis er davon überzeugt ist, dass es sich beim Objekt in der Ferne um ein Haus handelt…..
Der Wanderer hat also schon vorweg, bevor er das Haus in der Ferne als solches erkennt, eine abstrakte Vorstellung wie ein Haus “aussieht”, – was charakteristisch für ein Haus ist und indem er dem Objekt in der Ferne näher kommt, erkennt er mehr und mehr die Merkmale eines Hauses. So erkennt er beim Näherkommen, dass es sich beim Objekt in der Ferne um ein Haus handelt.
Gleicherweise erkennt auch ein Arzt, wenn er mit einem Kranken befasst ist im Laufe der Untersuchung mehr und mehr ob gewisse Merkmale vorliegen, welche die charakteristischen Merkmale einer Krankheitseinheit ausmachen, und er erkennt damit im Prozess des Diagnostizierens die Krankheit bzw. die Krankheitsstörung.
Es gibt in Bezug auf diese Merkmale Unterschiede insofern, dass manche von ihnen physischer Natur und damit vorzeigbar oder indirekt vorzeigbar sind, und andere Merkmale nicht physischer Natur sind und daher auch nicht in diesem Sinne vorzeigbar sind.
Im Falle des Erkennens einer sogenannten somatischen Krankheit sind es gewisse körperliche (somatische) Merkmale, also physisch sichtbare Merkmale (z.B. eine Rötung, eine Schwellung etc.) oder indirekt vorzeigbare Merkmale (ein auffälliger Röntgenschatten von Gewebsverdichtungen: von einer Lungenentzündung, von einem Tumor) oder abnorme Laborparameter (welche quantifiziert ermittelt werden können etc.) feststellbar, welche den Anlass zur somatischen Diagnose geben bzw. die initiale Verdachtsdiagnose bestätigen.
Da diese Merkmale von jeder fachkundigen Person – da sie real physisch existent sind – gleich erkannt werden, sind diese Merkmale zweifelsfrei bestimmbar und damit objektiv. Als Folge davon ist auch der logische Schluss von diesen Merkmalen auf die Krankheitseinheit gewiss und ist damit die gestellte Diagnose objektiv gewiß und gesichert. Mit anderen Worten alle fachkundigen Personen stimmen in einem solchen Fall in der diagnostischen Einschätzung, im diagnostischen Urteil überein.
(Anmerkung: Wie hinlänglich bekannt ist, gibt es natürlich auch in der somatischen Medizin diagnostische Probleme bei der Bestimmung und Zuordnung von Grenzfällen, ob beispielsweise der vorliegende Krankheitszustand “noch dieser” oder bereits “jener”, also einer anderen Krankheitseinheit zuzuordnen ist (z.B ob das Zellbild eines Blutausstrichs noch einer lymphatischen Leucämie zuzuordnen ist oder bereits einer myeloischen Leucämie etc.).
Grundsätzlich kann jedoch festgehalten werden, dass gesicherte somatische Diagnosen sich auf vorzeigbare bzw. indirekt vorzeigbare Merkmale gründen, welche ihrerseits objektiv gewiss bestimmt werden können.
Im Gegensatz dazu, gründen sich psychiatrische Diagnosen nicht auf vorzeigbare bzw. indirekt vorzeigbare Merkmale, sondern handelt es sich hierbei um Merkmale, welche der Erkennende nur in seiner Vorstellung gewinnt. Das heisst der Erkennende gewinnt, als Folge der Informationen, die er im Rahmen der Untersuchung gewinnt (dem Bericht der Person, der Art und Weise wie die Person berichtet, der Stimme, Tonfall, dem Auftreten, der Art und Weise wie sie sich äußert etc. und infolge des Inhaltes dieser Informationen) einen “Eindruck” bzw. ein ”Bild” vom Patienten.
Dieses “Bild” gründet sich auf verschiedene Phänomene (griechisch: phenomenon – ein sich Zeigendes, ein Erscheinendes), welche insgesamt das klinische Bild ausmachen. Einzelne Phänomene sind: z.B. die Art und Weise wie die Person ihre Gedanken vorträgt, ob sie diese flüssig vorträgt oder mit abrupten Unterbrüchen, welche offensichtlich nicht natürlich entspringen und schliesst der Untersucher aus derartigen Gegebenheiten z.B. darauf, dass der Gedankengang der Person normal, noch normal oder krankhaft “sprunghaft” ist etc. Gleicherweise bewertet der Untersucher, auf der Grundlage seiner klinischen Erfahrung (indem er den aktuellen Sachverhalt mit seinen Vorerfahrungen mit ähnlichen Fällen vergleicht), ob die Gedankeninhalte “normal”, “grenzwertig normal” oder als “krankhaft” zu bewerten sind. Beispielsweise ob die Person nur überdurchschnittlich von ihren Ideen eingenommen ist, ob es sich um “überwertige Ideen” handelt, oder ob es sich um eine manifeste “wahnhafte Störung” handelt. Oder in Bezug auf die Gestimmtheit, ob die Person stimmungsmäßig ”bedrückt” ist oder ob bereits die Kriterien einer “depressiven Störung” vorliegen.
All diese Merkmale sind nicht physischer Natur (materieller Natur), sondern es sind “mentale Merkmale”, also Ideen, zu denen der Untersucher in seiner Vorstellung im Rahmen des Untersuchungsganges gelangt und die in der physischen Wirklichkeit kein Korrelat haben aus dem sich unmittelbar die Merkmale ergeben. Mit anderen Worten, der Untersucher kann diese Merkmale, die er bei einer anderen Person infolge seiner eigenen Auffassung und Denkvorgänge feststellt nicht weiter begründen, er kann sie auch nicht vorzeigen, da sie ja tatsächlich nicht vorzeigbar sind, sondern er kann nur die Ansicht vertreten, dass er deren Feststellung für gerechtfertigt erachtet.
Mit nochmals anderen Worten: die vorgenannten Merkmale sind “ideeller” , rein “geistiger” Natur – wenn gleich sie infolge von realen sinnlichen Wahrnehmungen entstanden sind.
Immanuel Kant sagt:
“So fängt denn alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen an, geht von da zu Begriffen, und endigt mit Ideen.”
Es ist also so, dass der Untersucher infolge seiner Vorkenntnisse, infolge seiner klinischen Erfahrung und der Fachkenntnis, der Kenntnis der Fachtermini und infolge der Anschauung also seiner sinnlichen Wahrnehmung, zu den Urteilen gelangt ist, dass bei der Person dieses oder jenes Phänomen vorhanden ist, welches ein charakteristisches Merkmal einer psychiatrischen Krankheit (Störung) bildet. Aus der Gesamtheit dieser Merkmale (Begriffe) schließt er sodann auf das Vorhandensein der Störung (Krankheit) und gelangt er damit zur Vorstellung (Idee) was die Person in gesundheitlicher Hinsicht ”hat”.
Die vorgenannten mentalen Merkmale (Phänomene) entstehen also auf der Grundlage, dass die erkennende Person im Laufe der Besprechung infolge der Informationen (dem Erscheinungsbild, der Mimik, der Gestik, der sprachlichen Mitteilungen, dem formalen Gedankengang, den Gedankeninhalten etc.) zu Begriffen also zu Worten gelangt, welche ihrerseits dann Anlass zur Feststellung einer psychiatrischen Diagnose geben.
Man kann auch sagen, dass sich aus der Gesamtheit dieser Merkmale – dem Symptomenkomplex – die Diagnose ergibt bzw. dass der Untersucher unter der Krankheitseinheit die Symptome auffasst bzw. subsumiert.
Zum Beispiel die Feststellung, ob jemand depressiv ist oder nicht depressiv ist, leitet der Erkennende aus dem Erscheinungsbild, dem Auftreten, dem sprachlichen Ausdruck, der kraftlosen Stimme, der Mimik, der Gestik und den psychischen Symptomen: der mitgeteilten Lustlosigkeit, Interessensverlust, Verminderung des Antriebs, Schlafstörungen, Leistungsabfall, Ängste bis hin zur Verzweiflung ……usf. ab.
Wie man sieht, stecken in den psychischen Phänomenen die Wahrnehmungsurteile des Untersuchers und sind dem Untersucher die Phänomene nicht “an sich als Erkenntnisgegenstände” gegeben.
Vielmehr handelt es sich um Erscheinungen, die sich in seinem Bewußtsein als Folge seiner sinnlichen Wahrnehmung und Denkungsart ergeben.
Es ist also so, dass der Untersucher, welcher schon Eingangs der Untersuchung einen initialen “Eindruck” von der Person gewonnen hat, aus der Schilderung und den Antworten auf die einzelnen Fragen, im Laufe der Untersuchung, die Diagnose ableitet und dabei eventuell auch noch die Zusatzinformationen von Drittpersonen mitberücksichtigt hat. Aus der Gesamtheit dieser Informationen gelangt er sodann zur Diagnose, z.B. dass bei der Person eine depressive oder sonstige psychische Störung vorliegt.
Auch bei der Feststellung einer somatischen Diagnose ist es so, dass die eigentliche Erkenntnis der Diagnose im Bewußtsein des Untersuchers stattfindet und die Diagnose sich nicht unmittelbar aus der Anschauung ergibt. Auch hier ist es so, dass der Untersucher erst über die Begriffe, welche für die krankheitsspezifischen Merkmale stehen, zur Feststellung der Diagnose gelangt. Da es sich bei diesen Merkmalen jedoch um reale physische Merkmale handelt, werden dieselben von jeder fachkundigen Person als solche erkannt und ist damit dann eben die Diagnose gewiss bzw. objektiv bestimmt.
Es ist also so, dass gewisse somatische Diagnosen tatsächlich objektiv bestimmt werden können. (vergleiche mit Kant Zitat 6)
(Ein somatisches Beipiel: Bei der Diagnose Herzinfarkt ist die Einheit “Herzinfarkt” dem Untersucher nicht als ”Gegenstand schlechthin” (im Kant`schen Sinne, vergleiche Kant Zitat 6) gegeben. Sondern ist mit dem Begriff “Herzinfarkt” eine Vorstellung gemeint unter der das “klinische Bild” mit all seinen “Zusatzbefunden” (EKG Befunden, Laborbefunden etc.) aufgefasst wírd. Wie bekannt ist ergibt sich die Feststellung ob jemand einen Herzinfarkt erlitten hat erst aus dem Nachweis der krankheitsspezifischen Merkmale, den typischen EKG Befunden, den typischen Laborbefunden und kann erst nach Vorliegen dieser Befunde entschieden werden ob die Diagnose “Herzinfarkt” zutrifft oder nicht.
Immanuel Kant unterscheidet also Ideen, welche sich auf tatsächliche, wirkliche Objekte (”Gegenstände schlechthin”) beziehen von Ideen, die sich nicht auf wirkliche Gegenstände beziehen. Die letzt genannten Ideen nennt I. Kant ”bloße Ideen”. (vergleiche Kant Zitat 4)
Bei der Verdachtdiagnose “Herzinfarkt” handelt es sich vorerst auch um eine Idee, welche bis auf weiteres noch nicht gesichert ist. Wenn dann aber die typischen EKG-Zeichen aufzeigbar sind und auch die typischen Laborbefunde (Enzymwerte) vorliegen, steht zweifelsfrei die Diagnose “Herzinfarkt” fest. Damit ist die Idee (Verdachtsdiagnose) gesichert und bezieht sich diese Idee auf einen realen physichen Sachverhalt im Sinne eines “Gegenstandes schlechthin”, wenn damit der Verschluß in der Koronararterie gemeint ist (vergleiche mit Kant Zitat 6)
Wenn ein Psychiater sagt, dass eine Person “depressiv” ist, so ist es nicht gewiss, dass auch andere Psychiater zu derselben Einschätzung gelangen bzw. sich dieser Einschätzung anschließen und kann diese Diagnose, nicht objektiv bestimmt werden. Zu erwarten ist allerdings, dass in den Fällen, in denen die Phänomene sehr ausgeprägt sind, auch andere Psychiater, zur selben diagnostischen Einschätzung (Feststellung) gelangen, falls sie sich derselben Klassifikation bedienen.
Wie man sich leicht überzeugt, sind sämtliche psychologischen (psychiatrischen) Ideen, “bloße Ideen” in diesem Sinn. Weiters sind auch sämtliche Kategorien, wie sie die psychiatrische ICD-10 Klassifikation und DSM-IV Klassifikation bilden “bloße Ideen” und ebenso sind auch alle psychologischen Theorien, z.B. diejenigen von Sigmund Freud, diejenigen von C. G. Jung, Alfred Adler etc. sämtliche ”bloße Ideen” beziehungsweise “Bündel” von ”bloßen Ideen”, die zusammen eine komplexere “bloße Idee” bilden.
Es sei also nochmals festgehalten, dass diese Erkenntnisgegenstände dem Erkennenden jeweils nur in seiner Vorstellung gegeben sind und, dass daher nur Personen, die den Sachverhalte ähnlich auffassen zur gleichen Erkenntnis gelangen.
Dieser Grundtatsache sollte man sich bewußt sein, wenn man als Psychiater, als Psychologe oder als Psychotherapeut tätig ist.
Wir sind in unserm Beruf mit “bloßen Ideen” befasst, also mit Vorstellungen, die sich in unseren Köpfen darstellen und außerhalb unserer Köpfe kein physisches Korrelat haben. Man soll sich also diese Einheiten nicht als etwas “Wirkliches” vorstellen, sondern handelt es sich bei diesen “Einheiten” um etwas zugrunde “gelegt” Gedachtes – um “projektierte Einheiten” im Kant`schen Sinne (vergleiche Kant Zitat 5)
Das gilt im Übrigen auch für Aussagen wie: Die Person ist “glücklich” oder “unglücklich”, die Person hat einen “Intelligenzquotienten” von 100% etc. all dies sind nur projektierte Einheiten, also “bloße Ideen” um andere Begriffe unter diesen Einheiten aufzufassen.
Wie man sich weiter überzeugen kann, sind diese “bloßen Ideen” jedoch sehr brauchbar und nützlich und verwenden wir laufend in unserem täglichen Leben derartige Ideen um mit anderen Menschen zu kommunizieren und um uns ein “Bild” von den Dingen zu machen – dabei sollen wir uns allerdings der Beschränktheit und Relativität dieser Erkenntnisse bewußt sein (verlg. Kant Zitat 3)
Man kann sagen, dass sich die Psychiatrie als medizinisch wissenschaftliche Disziplin sich eigentlich erst infolge der Entdeckung dieser “bloßen Ideen” entwickeln konnte und entwickelt hat.
Erst durch die Begriffsdefinitionen die Beschreibung der psychischen und psychopathologischen Phänomene, durch die Begriffskreationen: Psychose, Depression, Schizophrenie, Manie, usf. und die schon zuvor vorbekannten Begriffe: Angst, Störung, Prozess, Phase, Schub, Intervall, etc. war es möglich die Mannigfaltigkeit der psychischen Erscheinungen zu beschreiben in Kategorien zu fassen und war es erst in weiterer Folge möglich, die damit gebildeten Krankheitseinheiten zu untersuchen. In diesem Zusammenhang entstanden dann die abgeleiteten Begriffe: “Antidepressiva”, “Neuroleptika”, “Tranquilizer”. So gesehen ist auch die “biologische Psychiatrie” ohne diese “bloßen Ideen” gänzlich unvorstellbar bzw. basiert auch sie selbst auf diesen Erkenntniskategorien.
Wer sich des soeben beschriebenen Sachverhaltes z.B. im Rahmen seiner psychiatrischen Tätigkeit bewußt ist – und bewußt bleibt – wird verschiedene Fehler nicht begehen, die einer Person sehr leicht unterlaufen, wenn sie sich der Herkunft bzw. Basis der psychiatrischen (psychologischen) Erkenntnisgrundlagen nicht bewußt ist.
Wäre zum Beispiel Sigmund Freud sich dessen bewußt gewesen, dass seine Theorien “bloße Ideen” sind – dann wäre er mit seinen Schülern nicht in einen Konflikt geraten. Er hätte dann keinen Anlaß gesehen seinen Schülern und Kollegen zu zürnen als sie ihre eigenen Theorien entwickelt haben, sondern wäre er sich dessen bewußt gewesen, dass man Zusammenhänge auch anders “sehen” kann als er sie selbst ”gesehen” hat.
Ja selbst alle Religionsstreitigkeiten, ob dieser Glaube der “einzig wahre” und “richtige” ist oder der andere der “einzig wahre” und “richtige” ist, würden unterbleiben, wenn die Menschen sich dessen bewußt wären, um was sie sich streiten.
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