Jaspers Zitat/Jaspers quotation

Karl Jaspers (1883-1969) schreibt in seinem Buch „Allgemeine Psychopathologie“ wie folgt:

(Buchnachweis siehe unten)

(f) Die Forschung unter Führung von Ideen.

Kant hat begriffen und großartig gezeigt: Wo ich das Ganze erfassen will, sei es die Welt oder den Menschen, verschwindet mir der Gegenstand, weil das was ich meine, Idee (Aufgabe unendlicher Forschung), nicht bestimmte und geschlossene Endlichkeit ist. Was ich erkenne, ist niemals die Welt, sondern etwas in der Welt; die Welt ist kein Gegenstand, sondern Idee. Versuche ich fälschlich von ihr als einem Gegenstand Aussagen zu machen, so verwickle ich mich in unlösbare Antinomien. In der Welt kann ich nach allen Seiten erkennend voranschreiten. Die Welt kann ich nicht erkennen.

Nicht anders ist es mit dem Menschen. Der Mensch ist so umfassend wie die Welt. Ich habe ihn nie mehr im Ganzen, wenn er mir Gegenstand geworden ist und dies immer in einer bestimmten Weise und unter bestimmten Gesichtspunkten. Aber das Ganze bleibt doch. Wo ich das Ganze suche, suche ich ins Unendliche die Beziehungen von allem bestimmt Faßlichen aufeinander (das Kennzeichen von Arbeiten, die unter einer Idee auf das Ganze gehen, ist, dass sie alles bis dahin Zerstreute systematisch in Beziehung setzen, schlechthin universal von allem zu sprechen scheinen, während sie das Eine meinen).  Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm – mit Kants Worten – durch das „Schemader Idee. Schemata sind entworfene Typen, falsch, wenn ich sie als Realitäten behandle oder als Theorien von einem Zugrundeliegenden, wahr als methodisches Hilfsmittel, das grenzenlos korrigierbar und verwandelbar ist.

g) Methoden der Typologie.

Das erkennbare Gegenstandsein fange ich ein in Gattungen, zu denen es gehört, den Gegenstand der Idee umkreise ich in Typen. Es ist unerläßlich und klärend, den Unterschied von Gattung und Typus festzuhalten. Zu einer Gattung (z.B. Paralyse) gehört ein Fall oder er gehört nicht. Gattung ist der Begriff einer wirklich vorhandenen abgrenzbaren Art. Typus ist ein fiktives Gebilde, dem eine Wirklichkeit mit fließenden Grenzen entspricht, an dem ein Einzelfall gemessen, dem er aber nicht eingeordnet wird. Daher ist es sinnvoll, den Einzelfall an vielen Typen zu messen, um ihn möglichst zu erschöpfen. Dagegen liegt es nahe, daß die Unterordnung unter eine Gattung ihn erledigt sein läßt. Gattungen gibt es, oder es gibt sie nicht. Typen erweisen sich bei der Erfassung von Einzelfällen (in ihrer Eigenart aus dem vorausgesetzten Ganzen ihres Seins) als fruchtbar oder nicht. Durch Gattungen werden reale Grenzen erkannt, durch Typen nur einer fließenden Mannigfaltigkeit eine Struktur gegeben.

Wie entstehen Typen? Durch unsere denkende Anschauung, mit der wir ein konstruierbar zusammenhängendes Ganzes entwickeln. Wir unterscheiden Durchschnittstypen und Idealtypen. Durchschnittstypen entstehen, wenn man etwa an einer Gruppe von Menschen meßbare Eigenschaften (Körperlänge, Gewicht, Merkfähigkeit, Ermüdbarkeit usf.) feststellt und ihre durchschnittliche Stärke berechnet; … Für Durchschnittstypen brauche ich eine große Masse von Fällen. Für die Entwicklung eines Idealtypus genügt mir der Anlaß der Erfahrung bei einem einzigen oder zwei Individuen.

… Typologien sind überall möglich, wo Ganzheiten gesucht werden. Es gibt Typen der Intelligenz und Demenz, Typen des Charakters, Typen des Körperbaues (in morphologischer oder in physiognomonischer Konstruktion), Typen der Krankheitsbilder usw. Immer ist mit ihnen ein Schema der Idee des jeweiligen Ganzen gesucht.“ (Ende des Zitats)

aus:

Karl Jaspers: „Allgemeine Psychopathologie“, 9. unveränderte Auflage, Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1973, Seite 468 – 469, ISBN 3-540-03340-8, ISBN 0-387-03340-8

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Anmerkung zum Zitat:

Aus dem Zitat ist ersichtlich, dass Karl Jaspers erkannt hat, dass man psychische Phänomene nur auf der Grundlage von Ideen in Bezug auf definierte Typen jeweils vermittelt durch das Schema der Idee erkennen kann, das Ganze als Idee kann ich nicht geradezu erkennen.

Im Gegensatz dazu hat Emil Kraepelin geglaubt, dass man in der Psychiatrie gewisse psychische Krankheiten, so zum Beispiel die diagnostische Einheit Dementia praecox allgemein gültig erkennen (vgl. mit Kraepelin Zitat 1) und auf der Grundlage des naturwissenschaftlichen Verständnisses allgemein gültig bestimmen kann (vgl. mit Kraepelin Zitat 2). Emil Kraepelin hat nämlich geglaubt, dass man bei gewissen psychischen Krankheiten gesetzmäßige Beziehungen zwischen den körperlichen Vorgängen und den psychischen Erscheinungsformen finden wird und auf dieser Grundlage diese psychischen Krankheiten allgemein gültig bestimmen kann (vgl. mit Kraepelin Zitat 8). Im Prinzip hat Emil Kraepelin somit geglaubt, dass man in der Psychiatrie gewisse psychiatrische Diagnosen – so wie viele medizinischen Diagnosen in Bezug auf Gattungen – allgemein gültig bestimmen kann.

In dieser Hinsicht hat sich Emil Kraepelin allerdings getäuscht.

Man kann zwischen den körperlichen Vorgängen und den psychischen Erscheinungsformen keine gesetzmäßigen Beziehungen finden, und man kann daher die Psyche nicht durch Befunde des Körpers bestimmen.

Während also Emil Kraepelin die Möglichkeiten des Erkennens und damit die des Diagnostizierens in der Psychiatrie überschätzt hat, hat Karl Jaspers den Sachverhalt  richtig erkannt, wenn er in Bezug auf die psychischen Erscheinungen schreibt: Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm – mit Kants Worten – durch das “Schema” der Idee„.

Wie man sich überzeugt, nähert man sich in der psychiatrischen Praxis und in der psychiatrischen Wissenschaft dem Ganzen als Idee auf diese Art und Weise durch das „Schema“ der Idee.

Und wie man sich weiter überzeugt wird die psychiatrische Kategorie einer psychiatrischen Diagnose – etwa aus der psychiatrischen ICD-10 Klassifikation oder der DSM-5 Klassifikation durch das Schema der psychiatrisch diagnostischen Idee bestimmt.

Auf diese Art und Weise nähert man sich also in der Psychiatrischen Diagnostik – sowohl in der psychiatrischen Praxis wie auch in der psychiatrischen Wissenschaft – durch die psychiatrische Kategorie dem Ganzen der diagnostischen Einheit – somit der psychiatrischen Diagnose – durch das Schema der psychiatrischen Idee.

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(letzte Änderung 05.04.2023, abgelegt unter: Diagnostik, Zitate, Psychiatrie)

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……………………………………………………….(f) Investigation guided by ideas

Kant has given us his ideas magnificiently: When I want to grasp the whole, whether this be the world or the individual, the object eludes me, because what I have in mind is not something particular, enclosed and finite but an idea (the objective of unending research). What I get to know is never the world but only something in the world. The world is not an object but an idea.If I mistakenly try to make statements about it as an object, I find myself enmeshed in insoluble antinomies (contradictions). I may expand my knowledge in all directions in the world but the world itself I can never know.

It is no different when it comes to man. He is as comprehensive as the world. I never have him as a whole when he becomes an object to me; he is always so in a certain way and under certain aspects. Nevertheless the whole remains. When I seek the whole, I enter in an unending search after the infinite relationships of all known and knowable facts (the hallmark of the efforts which seek the whole under the guidance of some idea is that they bring what has hitherto been dissipated into some systematic relationship, and finally seem to speak generally of everything as if it were one). Although I cannot exactly know the whole as idea, I can approximate to it  – in Kant` s words – by the „schema“ of the idea. Schemata are designed types, misleading if I treat them as realities or as basic theories but true as methodological aids that can be endlessly corrected and reshaped.

(g) Methods of typology

I gather the knowable aspects of objects into generic groups of their own; I collect ideal objects into types. It is absolutely necessary, as well as clarifying, to hold on the distinction between generic group and type. A case either belongs or does not belong to a generic group (e.g. paralysis) whereas a case only corresponds more or less to a type (e.g. hysterical personality). A generic group is the concept which represents an actually existing and definable  variant. A type is a fictitious construct which in reality has fluid boundaries, it serves to assess a particular case, though it cannot be used as a classification. Hence there is a point in assessing a particular case in terms of a number of types so as to exhaust all the descriptive possibilities. If it is subsumed under some generic group the case will in all probability be finished once and for all. Generic groups either exist or they do not. Types reveal themselves as either fruitful or not for the comprehension of individual  cases (as the particular variation of the presupposed totality of their being).  Through the use of generic groups, real boundaries are established;  through the use of types we only give structure to a transient manyfold. …

… How are types arrived at? We create them through thoughful contemplation whereby we develop the construct of a coherent whole. …

… Whenever we look for complex unities we can find a typology. There are types of intelligence and dementia, types of personality, types of body-build (as morphological or physiognomic constructs), types of clinical pictures, etc. They are always an attempt to schematise the idea of the given whole.“ (end of quotation)

 

Jaspers Karl, General Psychopathology, Volume II, translated from the German by J. Hoenig and Marian W. Hamilton with a new foreword by Paul R. McHugh, The Johns Hopkins University Press edition, 1997, page 560-561, ISBN 0-8018-5775-9

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