Kahlbaum Zitat 1 : phänomenologische Grundlage der psychiatrischen Diagnostik

„In diesen Heften beabsichtige ich eine Reihe von Abhandlungen zu veröffentlichen, welche das während meiner Beschäftigung in zwei Irren-Anstalten gesammelte Material an Kranken-Beobachtung in speziell umgrenzten Thematen verarbeiten sollen und zum anderen Theil aus den klinischen Demonstrationen entstanden sind, welche ich in der ostpreussischen Provinzial- Irrenanstalt Allenberg vor Studierenden der Universität Königsberg gehalten habe.

Die Thatsache, dass alle bisher erschienenen Lehrbücher der Psychiatrie, trotzdem sie den bisher herrschenden Standpunkt der Gliederung des speciellen Krankheitsgebietes nach den bekannten Formen der Melancholie, Manie u. s. w. als unhaltbar verurtheilen, doch immer wieder das specielle Krankheitsmaterial an dies Fachwerk anschlossen, war für mich bestimmend, für meine Vorlesungen wie für die Demonstrationen am Krankenbette von dem speciellen Hinweis auf das Lehrbuch ganz abzusehen und den Zuhörern nach klinischer Methode Krankheitsbilder zu entwickeln, in welchen möglichst alle Lebenserscheinungen am einzelnen Kranken behufs der Diagnose verwerthet sind, und der ganze Krankheitsverlauf zur Beobachtung kommt.

Die so durch Zusammenfassung der häufigsten coincidirend vorkommenden Symptome und durch rein empirische Abgrenzung sich ergebenden Gruppen von Krankheitsgestaltungen, welche sich nur zum Theil und indirect mit den früheren Krankheitsformen decken, waren nicht nur den Zuhörern leicht verständlich zu machen, sondern die auf ihnen gebaute Diagnostik gewährte auch die Möglichkeit, aus dem augenblicklichen Zustand eines Kranken mit größerer Bestimmtheit den vorangegangen Verlauf ex post zu construieren und die weitere Entwicklung nicht nur ganz allgemein quoad vitam und valetudinem, sondern auch im Einzelnen in Betreff der mannigfaltigen Phasen des symptomatischen Bildes mit größerer Wahrscheinlichkeit zu erschließen, als es vom Standpunkte des früheren Eintheilungs-Fachwerks möglich wird.“

.

aus der Einleitung (Seite III)

KLINISCHE ABHANDLUNGEN

ÜBER

PSYCHISCHE KRANKHEITEN

VON

DR. KARL KAHLBAUM

1. Heft

DIE KATATONIE oder das Spannungsirresein,

Eine klinische Form psychischer Krankheit von Dr. Karl Kahlbaum, Director der Privat-Anstalt für Nerven- und Gemüts- Kranke in Görlitz, Berlin, 1874.

Verlag von August Hirschwald. Unter den Linden No. 68.

…………………….

mit einer neuen Einführung von Nicolaas Arts und Caroline Jagella,

Arts & Boeve Nijmegen, 2000

ISBN 90 75341 24 5

.

Anmerkung zum Zitat: 

Aus dem Zitat ist ersichtlich, dass Karl Ludwig Kahlbaum den Mangel der bis dahin angewandten Diagnostik in der Psychiatrie bemerkt  hat und deswegen für ihn bestimmend war eine Einteilung nach der klinischen Methode vorzunehmen.

Damit hat Kahlbaum im Prinzip die phänomenologische Diagnostik in die Psychiatrie unter Berücksichtigung des Verlaufs eingeführt.

Man kann auch sagen, dass Kahlbaum damit den momentanen psychischen Krankheitszustand unter Berücksichtigung der Entwicklung der psychischen Störung auf Basis der klinischen Erscheinungen somit auf Grundlage der Phänomenologie bzw. auf Basis der Psychopathologie – hier am Fallbeispiel der Katatonie – beschrieben, in die Psychiatrie eingeführt hat.

Mit anderen Worten:

Kahlbaum hat damit den Grundstein für die psychiatrische Diagnostik (und die psychiatrische Klassifikation) vorbereitet bzw. gelegt, insofern die symptomatologische Diagnostik in der Psychiatrie – bis zum heutigen Tag – und voraussichtlich auch in ferner Zukunft – auf der Grundlage des klinischen Erscheinungsbildes beruhen wird.

Man kann in der Psychiatrie eine krankheitswertige psychische Auffälligkeit und damit eine psychische Störung also nur durch den charakteristischen psychischen Symptomenkomplex bzw. nur durch die charakteristischen psychopathologischen Phänomene innerhalb der angewandten psychiatrischen Klassifikation erkennen und so die zutreffende psychiatrische Diagnose (als Psychiater/Psychiaterin subjektiv gültig) bestimmen.

Fast zeitgleich mit Kahlbaum hat Wilhelm Griesinger erkannt, dass derzeit die Diagnostik in der Psychiatrie auf der psychischen Anomalie (vgl. mit Griesinger Zitat) beruht. Allerdings war Griesinger zuversichtlich, dass in Zukunft gewisse psychische Krankheiten auf biologischer Grundlage diagnostiziert werden können (vgl. mit Griesinger Zitat).

Dies sollte sich jedoch als unmöglich erweisen – was Karl Jaspers auf der Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant als Erster erkannt und in seinem Buch „Allgemeine Psychopathologie“ (ab der 4. Auflage, erschienen 1946) aufgezeigt hat (vgl. mit Jaspers Zitat 6).

.

Weiteres zur phänomenologischen Grundlage des Wissens in der Psychiatrie in meinem Buch:

Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

erschienen im April 2019 im Verlag tredition

.

(letzte Änderung 27.01.2020, abgelegt unter: Diagnostik, Klassifikation, Psyche, Psychiatrie, Zitate)

.

………………………………..

weiter zu: alle Kahlbaum Zitate

………………………………..

weiter zu: alle Krapelin Zitate

………………………………..

weiter zu: alle Jaspers Zitate

……………………………………….

weiter zu: alle Psychiatrie Zitate

………………………………..

weiter zu: sämtliche Zitate

………………………………………

weiter zur Seite: medizinische Diagnose – psychiatrische Diagnose

…………………………………………………..Sorry, this entry is only available in German.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert