Die Bedeutung der „Kritik der reinen Vernunft“ für die Psychiatrie und Medizin

Im ersten Moment wird manch ein Leser verwundert sein, wenn er hört, dass die philosophische Abhandlung: „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant für die Psychiatrie und Medizin von Bedeutung sein soll.

Wenn man jedoch bedenkt, dass es in der Kritik der reinen Vernunft um die Grundlage des menschlichen Wissens und damit um die Grundlage des Erkennens und somit auch um die des Diagnostizierens in der Heilkunde geht, dann wird man nicht mehr von der Hand weisen, dass diese Schrift für die Medizin die Psychiatrie (und in weiterer Folge auch für die Alternativmedizin, Komplementärmedizin und Psychosomatik) von Bedeutung ist.

Tatsächlich liefert nämlich die Kritik der reinen Vernunft – gleichsam als „Nebenprodukt“ – die Grundlagen zur Beantwortung von verschiedenen Fragen der Psychiatrie und Medizin, auf die auf dem Wege der empirisch- wissenschaftlichen Forschung die erhofften Antworten nicht gefunden werden können.

Das heißt verschiedene Fragen können durch die psychiatrische Wissenschaft und auch durch die psychologische und die psychotherapeutische Wissenschaft auf statistischem Wege, und in Teilbereichen auch in der Medizin in der medizinischen Wissenschaft auf statistischem Wege nicht beantwortet werden, indem „Dinge“ gezählt und statistisch ausgewertet werden.

Immanuel Kant hat in seiner Schrift Kritik der reinen Vernunft aufgezeigt, dass wir sehr oft mit Ideen konfrontiert sind, die wir nicht am Probierstein der Erfahrung prüfen können (siehe dazu die Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft -> Kant Zitat)

Wir gelangen auf der Grundlage der Erfahrung also empirisch begründet zu gewissen Ideen. Diese Ideen können wir jedoch nicht „physisch“ überprüfen, da diese Ideen nicht auf ein Objekt zurückgeführt und auf dieser Grundlage bestimmt werden können. Das hat zur Folge, dass man solche Ideen in der Wissenschaft nicht „physisch“ (physikalisch, physiologisch, biologisch, chemisch, biochemisch, bildgebend usf.) nachprüfen kann – das heißt man kann das Zutreffen der Idee nicht „physisch“ auf der Ebene der Objekte bzw. auf der Ebene der Fakten beweisen. Mit nochmals anderen Worten: es gibt keinen allgemein gültigen Beweis für das Zutreffen der Idee.

So hat beispielsweise Eugen Bleuler die psychiatrische Idee bzw. das psychiatrische Konzept „Schizophrenie“ entwickelt (vgl. mit Bleuler Zitat und Bleuler Zitat 2). Bei diesem Konzept handelt es sich um eine Idee, die auf der Grundlage der klinischen Erfahrung und aus der zuvor in Verwendung befindlichen diagnostischen Einheit bzw. Idee: Dementia praecox abgeleitet worden ist (vgl. mit Bleuler Zitat), die man im konkreten Fall jedoch nicht „physisch“ überprüfen kann. Man kann im konkreten Fall nicht durch den Nachweis von körperlichen Zeichen (Merkmalen) allgemein gültig überprüfen, ob das Konzept auf einen konkreten Fall zutreffend ist oder nicht.

Mit anderen Worten: man kann daher die psychische Störung und damit die psychiatrische Diagnose „Schizophrenie“ nicht objektivieren. Das heißt man kann die psychiatrische Diagnose Schizophrenie nicht „physisch“ verifizieren oder „physisch“ falsifizieren. Es handelt sich nämlich bei einer solchen Idee um eine nur subjektiv gültige Erkenntnis (vgl. mit Kant Zitat 9) bzw. um subjektives Wissen, das nicht empirisch allgemein gültig überprüft werden kann. Man kann auch sagen: es handelt sich dabei um eine Erkenntnis, die auf der Grundlage einer bloßen Idee erlangt wird, die in der Form des Begriffs der Idee im Bewusstsein der erkennenden Person erscheint, wenn diese die charakteristischen Merkmale dieser Einheit, die eine systematischen Einheit ist, geistig durch das Schema der Idee auffasst (vgl. mit Kant Zitat 7).

In der Psychiatrie(Psychologie und Psychotherapie) sind wir praktisch ständig mit Ideen befasst, die wir nicht „physisch“ überprüfen können bzw. deren Zutreffen wir nicht „physisch“ messen und damit „physisch“ beweisen können.

Selbst in der körperlichen Medizin gibt es viele Ideen, die nicht „physisch“ überprüft werden können. Man kann in der körperlichen Medizin im Zweifelsfall z.B. allgemein gültig und daher nicht objektiv gültig entscheiden, ob z.B. die medizinische Diagnose „Migräne“ oder die medizinische Diagnose: „Spannungskopfschmerz“ zutreffend ist. In gleicher Weise kann man auch das Zutreffen der Diagnose Fibromyalgie bei einem Schmerzsyndrom nicht objektiv gültig bestimmen.

Immanuel Kant nennt Ideen für die es keinen Probierstein der Erfahrung gibt bloße Ideen.

In der Heilkunde, insbesondere in der Psychiatrie ist man praktisch immer mit bloßen Ideen im Sinne von Immanuel Kant befasst – nämlich mit psychiatrischen Ideen und mit psychologischen Ideen, die man „physisch“ nicht überprüfen kann.

Das heißt die psychiatrischen Diagnosen gründen sich auf bloße Ideen (vgl. mit Kant Zitat 4), die zwar empirisch auf der Grundlage der klinischen Erfahrung entstanden sind und die sich in der psychiatrischen Praxis hinreichend bewährt haben (vgl. mit Kant Zitat 10) und die daher von Nutzen und somit von Vorteil sind (vgl. mit Kant Zitat 4).

Wir können jedoch keine einzige psychiatrische Diagnose „physisch“ verifizieren oder „physisch“ falsifizieren. Dies trifft auch in der Medizin auf einen Teil der medizinischen Diagnosen zu, nämlich auf die medizinischen Diagnosen, die sich auf Symptome und auf nicht-objektivierbare Phänomene gründen. Somit können sämtliche phänomenologischen Diagnosen nicht physisch überprüft werden.

Daher sind die Ergebnisse der Kritik der reinen Vernunft sowohl für die psychiatrische (psychologische, psychotherapeutische) Praxis, wie auch für die psychiatrische Wissenschaft und auch für einen Teil der medizinischen Wissenschaft in der Diagnostik und in der Prognostik von fundamentaler Bedeutung.

Für die medizinische Praxis und auch für die psychiatrische Praxis – sowie auch für die psychologische und psychotherapeutische Praxis – ist die Kritik der reinen Vernunft auch insofern von Bedeutung, weil das prognostische Wissen spekulatives Wissen ist. Auch hierbei zeigt sich, dass je nach der Grundlage des Wissens prognostische Aussagen von unterschiedlichem Erkenntniswert möglich sind. (Weiteres dazu auf Poster 3: PROBABILITY IN MEDICINE AND IN PSYCHIATRY – IN THE LIGHT OF IMMANUEL KANT`S PHILOSOPHY)

In der Medizin und auch in der Psychiatrie gründet man die prognostischen Aussagen auf frühere Erfahrungen. Von diesen Erfahrungen und den daraus abgeleiteten Ideen machen wir sodann abhängig, in welche Richtung die weitere Behandlung gehen soll. Ich denke niemand wird bestreiten, dass auch das Kapitel der Prognose für die Medizin und Psychiatrie (Psychologie, Psychotherapie) von größter Bedeutung ist.

Eine Zusammenfassung zur gesamten Thematik finden Sie auf dem Poster:

Die Anwendung der “Kritik der reinen Vernunft” von Immanuel Kant auf das psychiatrische Diagnostizieren – Auswirkungen auf die psychiatrische Praxis und Wissenschaft

der am DGPPN-Kongress 2009 in Berlin vorgestellt worden ist.

In sind auch noch weitere fünf Poster in einer Serie an internationalen Psychiatrie Kongressen vorgestellt worden. Die Links dazu finden Sie auf der  Seite: Publications /  Presentations

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(letzte Änderung am 11.11.2018, abgelegt unter Medizin, Psychiatrie, Psychologie, Medizinische Diagnostik, Diagnostik)

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