Physik oder Metaphysik in der Psychiatrie

Wenn man die Frage stellt, ob die Metaphysik für die Psychiatrie von Bedeutung ist, so werden manche Psychiater sagen,  dass die Psychiatrie mit der Metaphysik nichts zu tun hat – da es in der Psychiatrie nicht um philosophische Fragen, z.B. des Seins, des freien Willens, der Wirklichkeit und dgl. geht, sondern um Krankheitszustände und gesundheitliche Störungen – so wie in den anderen medizinischen Fächern auch – und weiters werden manche Psychiater sagen, dass es heutzutage genügend Beweise gibt, dass die psychischen Störungen, insbesondere die endogenen Psychosen, die Schizophrenien, die Depressionen, die Manien usf. durch Störungen der Gehirnfunktion bzw. des Hirnstoffwechsels verursacht sind. 

Zu recht verweisen diese Psychiater auf Forschungsergebnisse und Theorien betreffend die Rezeptoren der Nervenzellen, die Transmittersysteme im ZNS und auch auf die Ergebnisse der Bildgebung und sonstige körperliche Befunde.

Einem solchen Einwand ist grundsätzlich nichts entgegenzuhalten und bin auch ich der Ansicht – wie übrigens auch schon Wilhelm Griesinger der Ansicht war – dass körperliche Ursachen bzw. ein körperliches Korrelat – den psychischen Krankheiten (Störungen) – und natürlich auch der normalen psychischen Funktion zu Grunde liegt.

Eine andere Tatsache ist jedoch, dass wir auch heute noch – so wie damals zu Zeiten des Wilhelm Griesinger – psychische Krankheiten und Störungen (wenngleich damals noch unter anderen Termini) auch heute noch auf der Grundlage der psychischen Anomalie  (vgl. mit Griesinger Zitat) also auf der Grundlage von psychischen Symptomen diagnostizieren.

Die Diagnosen: „Schizophrenie“, „Depression“, „Manie“ usf. werden weiterhin auf der Grundlage von psychischen Symptomen bzw. dem Vorhandensein von gewissen psychopathologischen Phänomenen diagnostiziert, und nicht auf der Grundlage von physischen Parametern. Es sind also bislang keine physischen Parameter (biologische Marker) bekannt, auf deren Grundlage psychische Störungen diagnostiziert werden können. Wir kennen keine biologischen Marker, die regelmäßig bei psychischen Störungen vorkommen. Es gibt zwar gewisse Hinweise dafür, dass gewisse psychische Störungen biologische Ursachen haben. Bis dato kann jedoch keine einzige psychische Störung auf der Grundlage von physischen Parametern, etwa auf der Grundlage von Laborbefunden, auf Befunden der Bildgebung (CT, MRT, fMRT etc.), der Genetik oder sonstigen „physischen“ Befunden festgestellt werden.

Das ist der PUNKT – der Punkt der den großen Unterschied zu den objektivierbaren Erkenntnissen in der somatischen Medizin ausmacht.

Wenn behauptet wird, dass die Psychiatrie etwas mit der Metaphysik zu tun hat, so gilt dies jedenfalls für das psychiatrische Diagnostizieren, denn wer könnte behaupten, dass die psychischen Symptome physisch erfasst werden und nicht metaphysisch. Metaphysisch im Sinne von „jenseits der Physis“, jenseits von dem, was uns „physisch“ zur Anschauung gegeben ist. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Dabei ist es natürlich schon so, dass der Patient uns „anschauungsmäßig“ – sinnlich wahrnehmbar – gegeben ist. Die charakteristischen Zeichen, die eine psychische Störung charakterisieren sind uns jedoch nur auf der Ebene der Vorstellung, also auf der mentalen Ebene und nicht „physisch“ anschauungsmäßig gegeben. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Die Diagnose bzw. der diagnostische Schluß gründet sich also nicht auf sinnlich wahrnehmbare „physische“ Zeichen, die uns als Merkmale von „Gegenständen schlechthin“ gegeben sind, sondern auf mentale Merkmale, also auf Merkmale, die uns nur als Merkmale „in der Idee“ – oder wie es Immanuel Kant formuliert als „Gegenstände in der Idee“ – gegeben sind – dies macht den großen Unterschied der Psychiatrie zur Medizin.

Die Diagnose einer psychischen Störung basiert also auf Merkmalen, die uns nur in der Vorstellung – also „jenseits der Physis“  (=metaphysisch) gegeben sind und ist daher das Zutreffen der Erkenntnis oder das Nichtzutreffen der Erkenntnis nach nicht nach „physischen“ sondern nach „metaphysischen“ Kriterien zu überprüfen.

Mit anderen Worten: Es gibt in der Psychiatrie (Psychologie, Psychotherapie) – nach Kant`scher Terminologie keinen Probierstein der Erfahrung„, sondern können die psychiatrischen (psychologischen, psychotherapeutischen) Erkenntnisse nur in der Vorstellung, im Bewusstsein der erkennenden Person einer kritischen Prüfung bzw.  Überlegung unterzogen werden.

Deshalb liefert die „Kritik der reinen Vernunft(engl. „Critique of Pure Reason“) die Kriterien für diese Prüfung. (vgl. mit Kant Zitat 2 und Kant Zitat 3)

Daher findet sich die Psychiatrie – verglichen mit den anderen medizinischen Disziplinen – in einer besonderen Situation, da ihre Diagnosen tatsächlich auf der Grundlage von „bloßen Ideen“ bzw. auf der Grundlage von „Gegenständen in der Idee“ gewonnen werden.

Dies trifft zwar auch für einen Teil der Diagnosen in der Medizin zu, nämlich auf die Diagnosen, die auf der Grundlage von Symptomen und Phänomenen (und nicht auf der Grundlage von physischen Befunden) festgestellt werden. Dazu zählen z.B. die Diagnosen Spannungskopfschmerz, Migräne, Fibromyalgie usf.

Viele Diagnosen in der Medizin werden jedoch auf der Grundlage von physischen Befunden gewonnen und befinden sich daher die anderen Fächer der Heilkunde bzw. Wissesnschaftszweige in einer anderen Erkenntnissituation.

Als Folge dieser andersartigen Erkenntnisbasis ist es erklärbar warum es in der psychiatrischen Wissenschaft zu wissenschaftlichen Problemen und Widersprüchen kommt, wie diese in der Wissenschaft der körperlichen Medizin nicht, oder nur am Rande von Bedeutung sind. Dazu finden Sie Weiteres auf diesem Poster , der am EPA Kongress 2010 in München präsentiert worden ist.

(letztes update 29.9.2010)

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