psychiatrische Wissenschaft – zum Grad der Wissenschaftlichkeit – 2. Teil

Die psychiatrische Wissenschaft gründet ihr Wissen auf psychische Phänomene. Die psychiatrische Wissenschaft gründet ihr Wissen also auf Erscheinungen, die im Bewusstsein der erkennenden Person erscheinen, wenn diese ein gewisses klinisches Erscheinungsbild auffasst.

Erkenntnistheoretisch bzw. philosophisch betrachtet gründet sich das psychiatrische Wissen – und damit auch das Wissen der psychiatrischen Wissenschaft – auf Ideen, die im Bewusstsein der erkennenden Person in der Form der Begriffe dieser Ideen erscheinen (vgl. mit Kant Zitat 7 und mit Jaspers Zitat). Es gründet sich das Wissen in der Psychiatrie und in der psychiatrischen Wissenschaft also nicht direkt auf körperliche Fakten (vgl. mit Kant Zitat 7), die objektiv und damit allgemein gültig bestimmt werden können – wie dies in der Medizin in vielen Fällen der Fall ist, sondern auf Erkenntnisse, die nur subjektiv gewiss im Bewusstsein einer Person erscheinen bzw. die nur subjektiv gewiss erkannt werden können.

Daher kann man in der Psychiatrie nur Wissen in Bezug auf einen Typus, das heißt nur Wissen in Bezug auf definiertes Ideal erlangen – wie dies Karl Jaspers erkannt in seinem Buch „Allgemeine Psychopathologie“ aufgezeigt hat. (vgl. mit Jaspers Zitat)

Mit anderen Worten: man kann in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) nur Wissen erlangen, das auf der Ebene der Ideen fundiert ist, und nicht auf der Ebene der körperlichen Fakten.

Oder nochmals anders formuliert: man kann in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) nur Wissen mit der Hilfe der Schemata der Ideen erlangen (vgl. mit Jaspers Zitat). Man kann also in diesen Erkenntnisbereichen kein Wissen erlangen, das direkt auf der Grundlage von körperlichen Fakten, sprich auf der Grundlage von physischen Objekten bestimmt werden kann. Man kann nur ein Wissen auf der Grundlage von mentalen Objekten erlangen, die man auf der Grundlage einer Idee und zwar auf der Grundlage einer bloßen Idee erkannt hat.

Man kann also in der Psychiatrie und damit auch in der psychiatrischen Wissenschaft nicht Wissen auf der Grundlage von Gegenständen schlechthin, sondern nur Wissen auf der Grundlage von Gegenständen in der Idee erlangen. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Dessen sollte man sich in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) in der Praxis und auch in der Wissenschaft bewusst sein. Wenn man sich dessen nicht bewusst ist und wenn man glaubt in diesen Bereichen in gleicher Weise ein gesichertes Wissen und damit reliables Wissen erlangen zu können, wie dies in der Medizin bzw. in der medizinischen Wissenschaft zum Teil möglich ist, nämlich dort, wo sich das Wissen sich auf körperliche Fakten gründet, dann hat man sich getäuscht – dann ist man noch nicht im Sinn der Aufklärung aufgeklärt. Dann hat man subjektives Wissen mit objektivem Wissen gleichgesetzt bzw. verwechselt. Dann hat man nicht unterschieden bzw. unterscheidet man nicht, dass es unterschiedliche Grade des Wissens gibt. Dann hat man nicht beachtet, dass manches, von dem was wir wissen beschränktes Wissen ist. Dann ist man irrtümlich davon überzeugt allgemein gültiges Wissen erlangt zu haben, wo man niemals allgemein gültiges Wissen erlangen kann – weil dies wegen der Erkenntnisbasis des Wissens unmöglich ist – dann ist man eben noch nicht im Sinn der Aufklärung aufgeklärt.

Dann steht man in der Gefahr soches Wissen und damit in der Psychiatrie das psychiatrische Wissen – das Wissen das man auf der Grundlage von definierten Ideen erlangt hat, für absolut gültiges Wissen anzusehen, obwohl man in der Psychiatrie kein absolut gültiges Wissen erlangen kann.

Wenn man im Irrtum befangen so denkt, dann ist man geneigt das Wissen das man in der Psychiatrie erlangt nicht zu relativieren, sondern dieses Wissen als absolut gültiges Wissen anzusehen – was tatsächlich falsch ist (vgl. mit Kant Zitat 3a) und daher nicht von Vorteil (vgl. mit Kant Zitat 4), sondern nachteilig ist.

Dann ist man in der Gefahr auch das Wissen das die psychiatrische Wissenschaft hervorgebracht hat zu überschätzen nicht angemessen zu verwenden.

Dann hat man nämlich eine psychiatrische Idee missverstanden, dann hat man eine psychiatrische Idee konstitutiv gebraucht – was aber grundsätzlich falsch ist. (vgl. mit Kant Zitat 3a)

Man sollte also in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) und auch in der psychiatrischen Wisssenschaft (psychologischen Wissenschaft und psychotherapeutischen Wissenschaft) sich ständig dessen bewusst sein, dass man nur beschränktes Wissen erlangen kann. Man kann nur Wissen in Bezug auf einen per Konvention definierten Typus erlangen. Egal ob dieser Typus gemäß der DSM Klassifikation definiert worden ist, oder gemäß der ICD Klassifikation definiert worden ist, oder gemäß sonst einer psychiatrischen Klassifikation definiert worden ist – etwa gemäß jener Klassifikation wie sie von Wilhelm Griesinger eingeführt worden ist (Weiteres dazu in diesem Beitrag), oder Wissen das man auf der Grundlage von sonst einer psychiatrischen Klassifikation erlangt hat – immer handelt es sich um beschränktes Wissen, das in Bezug auf definierte Ideen bzw. in Bezug auf definierte Typen erlangt worden ist. Daher handelt es sich in der Psychiatrie immer um beschränktes Wissen – sowohl im Hinblick auf die Errichtung einer psychiatrischen Klassifikation – wie auch im Hinblick auf das diagnostische Erkennen eines einzelnen Falles. Immer handelt es sich um beschränktes Wissen das in Bezug auf definierte Typen erlangt wird.

Weil das Wissen auf der Grundlage eines Typus erlangt wird, ist solches Wissen im konkreten Fall im Vergleich zum Typus mehr oder weniger zutreffend. Wenn das klinische Bild im konkreten Fall nur wenig typisch ist, wenn also der Fall nur wenig Merkmale des Typus bzw. des Ideals zeigt, dann ist die Diagnose nur wenig oder kaum zutreffend. Dann hat auch das, was die psychiatrische Wissenschaft zu derartigen Fällen sagt nur relativ wenig Gültigkeit für diesen konkreten Fall. Das psychiatrische Wissen ist also nur relativ gültig und nicht absolut gültig. Daher sollten die Ideen und das Wissen in der Psychiatrie – auch dasjenige wie es in der psychiatrischen Wissenschaft gewonnen worden ist – nur relativistisch verwendet werden. (vgl. mit Kant Zitat 4)

Das heißt man kann in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) sich die Mühe nicht ersparen das Wissen jeweils situationsbezogen zu relativieren. Man sollte vielmehr in jedem einzelnen Fall kritisch prüfen in welchem Ausmaß die angewandte Idee bzw. die angewandte Kategorie zutreffend und damit relativ gültig ist. Man muss sich in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) die Mühe machen und in jedem einzelnen Fall – ja nicht nur in jedem einzelnen Fall – sondern zur aktuellen Zeit bei jedem einzelnen Fall den Sachverhalt neu evaluieren und prüfen, ob das zuvor erlangte Wissen, die zuvor erlangte Idee noch zutreffend und damit noch gültig ist –  in welchem Ausmaß sie gültig ist – wenn sie noch gültig ist usf.

Man sollte also bedenken, dass die psychiatrischen Kategorien nur methodische Hilfsmittel sind, wie dies Karl Jaspers treffend erkannt hat (vgl. mit Jaspers Zitat). Es handelt sich nämlich beim psychiatrischen Wissen in doppelter Hinsicht um relatives Wissen bzw. beschränktes Wissen. Erstens um relatives Wissen im Hinblick auf die per Konvention definierte psychiatrische Kategorie und zweitens um relatives Wissen im Hinblick auf die per Konvention definierte psychiatrischen Klassifikation. Man kann also psychiatrisches Wissen unter den verschiedensten Aspekten – unter den verschiedensten Gesichtspunkten betrachten und studieren – immer handelt es sich beim erlangten Wissen um relatives Wissen das auf der Grundlage einer Ideenlehre erlangt worden ist. (vgl. mit Jaspers Zitat 11 und mit Kant Zitat 10)

Man kann also in der Psychiatrie nicht ein für allemal wissen, ob ein Patient diese oder jene psychische Störung „hat“ oder nicht „hat“ – man kann dazu nur relatives Wissen in Bezug auf ein definiertes Ideal erlangen – und dies zu einer gewissen Zeit – man hat dazu kein Wissen das auf der Grundlage von – in der „Natur“ vorgefundenen – Fakten bestimmt ist. Man hat in der Psychiatrie dieses Wissen nur auf der Grundlage von Gegenständen in der Idee erlangt. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Es kann sein, dass eine gewisse psychiatrische Diagnose zu einer gewissen Zeit zutreffend und passend ist. Zu einer anderen Zeit, zu einem späteren Zeitpunkt kann es jedoch sein, dass das subjektiv erfasste klinische Erscheinungsbild sich gegenüber dem vorhergehenden subjektiv erfassten klinischen Erscheinungsbild geändert hat und dass daher die Kriterien der psychiatrischen Kategorie vom aktuellen klinischen Bild nicht mehr erfüllt werden – womit die vorangehende Diagnose nicht mehr zutreffend ist – dessen sollte man sich in der Psychiatrie bewusst sein bzw. ist sich dessen ein im Sinn der Aufklärung aufgeklärter Psychiater / Psychiaterin bewusst. (vgl. mit Kant Zitat 10)

Man kann also in der Psychiatrie nur relatives Wissen erlangen und kein absolutes Wissen.

Wird diese Beschränktheit, beziehungsweise diese Relativität des psychiatrischen Wissens nicht berücksichtigt, dann hat man sich getäuscht, dann liegt man mit dem vermeintlichen Wissen neben dem best möglichen Wissen, dann gerät man umgehend in Widersprüche (Antinomien) (vgl. mit Jaspers Zitat, Kant Zitat 2 und Kant Zitat 3). Dann kann man das erlangte Wissen nur autoritär vertreten, aber kritisch begründet kann man es nicht vertreten.

Daher gerät die Psychiatrie als Disziplin der Heilkunde und die psychiatrische Wissenschaft als Forschungsdisziplin der Heilkunde ständig in berechtigte Kritik, weil sie derzeit ihr Wissen (noch) nicht generell kritisch verwendet. Es gerät also die Psychiatrie oftmals berechtigt in Kritik, weil sie die psychiatrischen Ideen (noch) missversteht und versucht daraus absolutes Wissen abzuleiten, was jedoch de facto unmöglich ist.

Man sollte also in der Psychiatrie und auch in der psychiatrischen Wissenschaft sich dessen bewusst sein, dass man das Ganze der Idee – wie dies Karl Jaspers formuliert hat – nicht erreichen kann. (vgl. mit Jaspers Zitat)

Man kann sich dem Ganzen der Idee in der Psychiatrie durch das Schema der Idee nähern (vgl. mit Jaspers Zitat). Das heißt man kann in der Psychiatrie – und in der psychiatrischen Wissenschaft – durch die psychiatrische Kategorie – die das Schema der zugehörigen psychiatrischen Idee ist – bzw. die das Schema der zugehörigen psychiatrischen Diagnose ist – sich dem Ideal bzw. dem Typus nähern – erreichen kann man das Ideal jedoch nicht. (vgl. mit Jaspers Zitat und Jaspers Zitat 6)

Man sollte sich also der Beschränktheit des Wissens in der Psychiatrie bewusst sein und bei den Überlegungen und Handlungen die Beschränktheit des psychiatrischen Wissens berücksichtigen. Mit anderen Worten: man sollte das psychiatrische Wissen immer kritisch verwenden und immer angemessen relativieren, diese Mühe kann – und sollte man sich nicht ersparen, weil man sonst mit dem Wissen daneben liegt, weil man sonst das bestmögliche Wissen verfehlt. (vgl. mit Kant Zitat 2 und Kant Zitat 3)

Nur wenn man in diesem Sinn das subjektiv erlangte Wissen kritisch verwendet und auch das Wissen, das die psychiatrische Wissenschaft hervorgebracht hat und die psychiatrischen Leitlinien kritisch verwendet – nur dann liegt man richtig – nur dann wird die Verwendung der psychiatrischen Ideen nur von Vorteil und damit zum bestmöglichen Nutzen und nicht zum Schaden sein. (vgl. mit Kant Zitat 4)

Die psychiatrische Wissenschaft kann also wegen ihrer Erkenntnisgrundlage nicht den Grad der Wissenschaftlichkeit erreichen wie die medizinische Wissenschaft – wo diese ihr Wissen auf der Grundlage von Gegenständen schlechthin, das heißt auf der Grundlage von objektiven Befunden erlangt. Es liegt in der Natur der Sache und zwar in der „Natur“ der Erkenntnisbasis begründet, dass die Psychiatrie kein Wissen vom Grad der Gewissheit erlangen kann.

In der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) kann man auf der Grundlage von Ideen nur Wissen vom Grad der subjektiven Gewissheit, also Wissen vom Grad des Glaubens bzw. einer fachlichen Meinung erlangen und erlangt man daher in diesen Erkenntnisbereichen nur Wissen vom Grad der subjektiven Evidenz und nicht Wissen vom Grad der objektiven Evidenz.

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(letztes update 19.3.2013, abgel. unter psychiatrische Wissenschaft)

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