Missverständnis eines psychiatrischen Konzepts – Missverständnis einer psychiatrischen Idee

Es geschieht sehr leicht, dass man ein psychiatrisches Konzept bzw. eine psychiatrische Idee missversteht.

Die psychiatrischen Konzepte sind bekanntlich im Rahmen der psychiatrischen Praxis entstanden.

Auf diesem Wege hat z.B. Eugen Bleuler das psychiatrische Konzept „Schizophrenie“ entwickelt (vgl. mit Bleuler Zitat), das sich als sehr nützliche psychiatrische Einheit erwiesen hat. Alle psychiatrischen Ideen bzw. alle psychiatrischen Konzepte sind aus der Praxis heraus entstanden. So ist z.B. in der Vergangenheit auch das psychiatrische Konzept „ADHS“ auf der Grundlage von Beobachtungen und Erfahrungen entstanden, die man bei Kindern und Jugendlichen gemacht hatte, und wurde erst in jüngerer Vergangenheit diese Einheit auch in die Erwachsenenpsychiatrie eingeführt.

Bei der praktischen Verwendung von diesen Konzepten – von denen viele psychiatrische Diagnosen sind – geschieht es sehr leicht, dass man das Wissen, das man auf dieser Grundlage erlangt, irrtümlich glaubt damit etwas Fixes und damit etwas allgemein gültiges zu erkennen. Man sieht also solches Wissen irrtümlich als allgemein gültiges Wissen an. Man kommt leicht zur Vorstellung, dass es sich dabei um objektives Wissen handelt. Man glaubt, dass solches Wissen das man auf der Grundlage einer solchen Einheit erkannt hat allgemein gültig ist, so wie dies auch in der Medizin bei vielen Einheiten der Fall ist, weil man diese Einheiten auf der Grundlage von objektiven Befunden allgemein gültig bestimmen kann.

Tatsächlich handelt es sich jedoch bei einer psychiatrischen Einheit, die auf der Grundlage eines Konzepts erkannt wird um eine ganz andere Einheit, nämlich um eine systematische Einheit (vgl. mit Kant Zitat 7) und zwar um die systematische Einheit einer bloßen Idee. (vgl. mit Kant Zitat 8)

Es handelt sich also bei einer solchen Einheit um eine ganz andere Einheit als in dem Fall wenn die Einheit auf der Grundlage eines demonstrierbaren Objekts bestimmt wird, das man allgemein gültig bestimmen kann, weil es wirklich existiert.  (vgl. mit Kant Zitat 7)

Vielmehr handelt es sich bei einem psychiatrischen Konzept um eine bloß problematisch zum Grund gelegte Einheit (vgl. mit Kant Zitat 8) und es ist daher eine solche Idee eine bloße Idee, die uns ermöglicht andere Erkenntnisobjekte durch den Bezug auf das Schema dieser Idee aufzufassen. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Auf diese Art und Weise kann man in der Psychiatrie z.B. einen gewissen psychischen Symptomenkomplex durch den Bezug auf die psychiatrische Kategorie auffassen, die das Schema der psychiatrisch- diagnostischen Idee ist. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Weil man eine solche Einheit nicht auf der Ebene der physischen Objekte bestimmen kann, sondern man eine solche Einheit nur auf der Ebene der Vorstellungen – also nur auf der Ebene der Ideen – bestimmen kann, handelt es sich bei einer solchen Einheit um eine systematischen Einheit im Sinn von Immanuel Kant  (vgl. mit Kant Zitat 7) – und es ist daher der Begriff einer solchen Einheit ein regulativer Begriff.

Man sollte daher nicht übersehen, dass es sich bei einem psychiatrischen Konzept bzw. bei einer psychiatrischen Idee um etwas Relatives und nicht um etwas Fixes handelt. Man sollte sich dessen bewusst sein, dass es sich beim Wissen das man mit der Hilfe von solchen Ideen bzw. von solchen Konzepten gewinnt um relatives Wissen, handelt das gleichzeitig auch beschränktes Wissen ist.

Mit anderen Worten kann man auch sagen: das Wissen, das man mit der Hilfe von psychiatrischen Konzepten gewinnt ist kein objektives Wissen ist, sondern eben nur subjektiv gültiges Wissen ist.

Im Gegensatz dazu ist eine objektiv feststellbare medizinische Diagnose tatsächlich allgemein gültig und hat man damit in vielen Fällen eine „fertige“ und damit abgeschlossene bzw. „fixe“ Erkenntnis erlangt.

In der Psychiatrie hingegen ist eine Erkenntnis, z.B. die Erkenntnis einer psychiatrischen Diagnose nichts Fixes, nichts Fertiges, sondern eben nur etwas Relatives das man auf der Grundlage einer Ideenlehre bzw. auf der Grundlage einer definierten Ideologie erlangt hat. Daher soll man sich dessen bewusst sein dass es sich dabei um eine relative Erkenntnis handelt, die zwar empirisch  – also auf der Grundlage der klinischen Erfahrung erlangt worden ist, die jedoch nur mit der Hilfe eines hypothetischen Konzepts gewonnen worden ist. (Weiteres dazu auf Poster 4 mit dem Titel: EMPIRICISM IN PSYCHIATRY VERSUS EMPIRICISM IN MEDICINE – IN THE LIGHT OF THE PHILOSOPHIES OF JOHN LOCKE, DAVID HUME AND IMMANUEL KANT)

Daher soll man eine psychiatrische (psychologische, psychotherapeutische) Erkenntnis in der Schwebe halten, wie dies Karl Jaspers formuliert hat (vgl. mit Jaspers Zitat 2)

Tatsächlich wird dies in der psychiatrischen Praxis jedoch vielfach nicht beachtet und auch nicht so  gemacht.

Es werden die Ideen in der Psychiatrie – die Ideen im Sinn von Immanuel Kant sind (vgl. mit Kant Zitat 4 und Jaspers Zitat) oftmals missverstanden. Die Erkenntnisse bzw. die gewonnen Ideen werden oftmals irrtümlicherweise als absolutes, fertiges Wissen bzw. als vollständiges Wissen angesehen und auch so gehandhabt. Es werden diese Ideen also irrtümlich konstitutiv gebraucht. (vgl. mit Kant Zitat 3a)

Dies ist jedoch falsch und wird dies der Sache in keiner Weise gerecht und ist daher eine solche Sichtweise der Sache auch nicht dienlich. (vgl. mit Kant Zitat 3a)

Damit stirbt z.B. jede geistige Bewegung im Denken ab. Das heißt die Dialektik in der Psychiatrie kommt damit zum Stillstand. Es werden nicht mehr die Gegensätze der Ideen beachtet und berücksichtigt und kommt als Folge davon das Denken zum Stillstand, weil sich damit keine Assoziationen mehr ergeben. Als Folge dieses Effekts kommt damit die psychiatrische Diskussion zum Stillstand und es begibt sich damit die Vernunft zur Ruhe, als ob sie ihr Geschäfte völlig ausgerichtet habe (vgl. mit Kant Zitat 3a). Man glaubt also als Folge des falschen Verstehens der psychiatrischen Idee die Sache ausreichend erkannt zu haben und man beachtet daher bei falscher Verwendung der Idee z.B. nicht die Übergänge der einzelnen Formen ineinander wie dies Wilhelm Griesinger richtig erkannt hat (vgl. mit Griesinger Zitat) und damit beachtet man auch nicht mehr der Übergang von einer psychischen Störung zur Normalität.

In solcher Weise falsch verstandenes Wissen verunmöglicht das „geistige“ Sehen von anderen, wesentlichen Zusammenhängen und es damit Sichtweise  in einer fixierten Ansicht. Man überbewertet damit also einen einzelnen Gesichtspunkt (vgl. mit Jaspers Zitat 11) indem man diesen als faktisches Wissen ansieht. Man glaubt damit irrtümlicherweise eine fertige, fixe Erkenntnis erlangt zu haben. Man glaubt damit irrtümlich mit dem Erkennen und damit mit dem Denken „fertig“ zu sein, obwohl dies tatsächlich in keiner Weise der Fall ist.

Der Patient wird mit der Diagnose gleichsam „abgestempelt“, und glauben nicht selten auch Fachleute damit die Sache abschließend erkannt zu haben. Solches Denken und Verwenden der psychiatrischen Ideen führt zur Stigmatisierung. Einerseits bemüht man sich in der Psychiatrie zwar um die Ent-Stigmatisierung und andererseits praktiziert man sie fortlaufend durch die falsche Verwendung der psychiatrischen Ideen. Man verwendet in der Psychiatrie der Gegenwart (Stand 20013) also die Ideen vielfach irrtümlich falsch, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass es durch den falschen Gebrauch der Ideen zu einer unbeabsichtigten Stigmatisierung kommt.

Es wird damit deutlich welche weitreichenden Konsequenzen mit dem falschen Gebrauch der psychiatrischen Ideen und damit auch mit dem falschen Gebrauch der psychiatrischen Diagnosen verbunden sind. (Weiteres dazu hier)

Lähmende Wirkung des falschen Gebrauchs eines psychiatrischen Konzepts bzw. einer psychiatrischen Diagnose

Tatsächlich hat der falsche Gebrauch der psychiatrischen Konzepte bzw. der falsche Gebrauch der psychiatrischen Diagnosen eine lähmende Wirkung. Der Untersucher glaubt eine gesicherte Erkenntnis gewonnen zu haben und der Patient, wenn er dem Arzt glaubt, denkt in gleicher Weise nun eine Diagnose zu „haben“, die ihm im Namen der psychiatrischen Wissenschaft mitgeteilt worden ist, die den Stellenwert einer objektiven Erkenntnis hat und allgemein gültig ist.

Durch die amtliche Verwendung und Kommunikation der Begriffe, wie diese im Rahmen der Verwaltung geschieht, wird das Ganze noch entsprechend wiederholt „schwarz-weiß“ gedruckt bestätigt und dadurch weiter suggeriert und zementiert. Der diagnostische Begriff repräsentiert damit etwas Unveränderliches und es findet diese Sichtweise Eingang in die Akten und ärztlichen Unterlagen, um sodann in dieser Form zukünftig „aufgegriffen“ und – oftmals fachlich unhinterfragt – weiter kommuniziert zu werden.

Tatsächlich ist es aber nicht weit her mit diesem vermeintlich gesicherten bzw. mit diesem vermeintlich reliablen Wissen und hält dieses vermeintliche Wissen einer tiefer gehenden Kritik nicht stand.

Weil aber diese Kritik in der Regel ausbleibt – und in der Regel die Fachleute von ihren psychiatrischen Lehrern nicht gelehrt worden sind, die Sache immer wieder kritisch zu hinterfragen und zu relativieren, nimmt die Sache so ihren unglücklichen Lauf – leider nicht selten zum Schaden für die Patienten und auch zum Schaden für die Psychiatrie als Fach, das durch diese Praxis bildlich gesprochen „entvitalisiert“ und „paralysiert“ – und damit letztlich gelähmt wird – und nicht zuletzt der Psychiatrie ein schlechtes Ansehen beschert.

Kurz gesagt, das missverstandene Wissen in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) bleibt oftmals unhinterfragt im Raum und im Namen der  Wissenschaft stehen.

Man erkennt damit wie die Psychiatrie als dialektische Disziplin sich bildlich gesprochen gleichsam den Hahn des dynamischen Denkens selbst abgedreht hat, und schon seit längerer Zeit unter dieser selbst hervorgebrachten Erstarrung zu leiden begonnen hat, und – wer Einblick in die Szene hat – der weiß, dass die Psychiatrie unter dieser Sachlage leidet.

Vorhersehbar wird für die Psychiatrie eine bessere Zeit – man kann sagen, die aufgeklärte Zeit – erst kommen, wenn sie ihre Erkenntnisgrundlagen und damit ihre Erkenntnisbasis berücksichtigt und wenn daher ab jener Zeit in der Psychiatrie bewusst darauf geachtet wird, dass man die psychiatrischen Ideen – allen voran die diagnostischen Ideen und damit die psychiatrischen Diagnosen – richtig verwendet.

Es ist zwar einerseits so, dass man, um überhaupt etwas in der Psychiatrie erkennen zu können, man abgegrenzte Einheiten, also definierte systematische Einheiten im Kant`schen Sinne bilden muss, um die Materie der psychischen Störungen kommunizierbar und studierbar zu machen. Gleichzeitig sollte man diese Einheiten, die auf der Grundlage von nicht überprüfbaren Ideen erkannt werden jedoch entsprechend flexibel handhaben, wie dies in der Vorzeit Karl Jaspers wiederholt gefordert und aufgezeigt hat (vgl. mit den Jaspers Zitaten) – und es sollte das Bewusstsein der Relativität der psychiatrischen (psychologischen, psychotherapeutischen) Erkenntnisse ständig bewusst gepflegt und beachtet werden.

Erst dann werden diese psychologischen Ideen nur von Vorteil sein (vgl. mit Kant Zitat 4) – und wird dies vorhersehbar erst dann der Fall sein, wenn sie angemessen, nämlichrelativistisch verwendet werden (vgl. mit Kant Zitat 4).

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(letzte Änderung 17.9.2013, abgelegt unter Konzept, Psychiatrie)

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