Griesinger Zitat/Griesinger quotation

Wilhelm Griesinger (1817- 1886) hat die 1. psychiatrische Nosologie im Deutschen Sprachraum geschaffen.

W. Griesinger schreibt in seinem Lehrbuch: „Pathologie und Therapie der Psychischen Krankheiten“:

(Buchnachweis siehe unten)

„Eine Eintheilung der psychischen Krankheiten nach ihrem Wesen, d.h. nach den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränderungen des Gehirns ist derzeit nicht möglich (§6); sondern, wie die ganze Classe der Geisteskrankheiten nur eine symptomatologisch gebildete ist, so lassen sich als ihre verschiedenen Arten zunächst nur verschiedene Symptomencomplexe, verschiedene Formen des Irreseins angeben. Statt des anatomischen Einteilungsprinzips müssen wir das funktionelle, physiologische festhalten, und dieses wird hier, da die Störungen des Vorstellens und Strebens die hauptsächlichsten und auffallendsten sind, zum psychologischen. Nach der Art und Weise der psychischen Anomalie ist also das Irresein einzutheilen; während es nun aber die Aufgabe des clinischen Unterrichts ist, die Mannigfaltigkeit der psychischen Störungen in den concreten Erkrankungsfällen hervorzuheben und zu analysieren, muss sich die Nosologie mit der Aufstellung weniger Hauptgruppen psychischer Störungen, weniger psychisch-anomaler Grundzustände begnügen, die sich aus der Übereinstimmung sehr vieler Fälle in gewissen charakteristischen Merkmalen ergeben und auf die sich daher alle Mannigfaltigkeit des einzelnen Erkrankens zurückführen lässt. Diese Grundzustände und ihre äussere Erscheinung haben wir hauptsächlich hier zu schildern, und wenn dabei die Varietäten und Übergänge der einzelnen Formen in einander freilich wohl beachtet werden müssen, so kann dies doch niemals in erschöpfendem Detail geschehen.”

(Ende des Zitats)

Zitat aus dem Lehrbuch von Wilhelm Griesinger: “Pathologie und Therapie der Psychischen Krankheiten”, 2. Aufl., Berlin 1867, Seite 211, Nachdruck des Verlages E. J. Bonset, Amsterdam 1967

es gibt nun auch einen weiteren Nachdruck:

Wilhelm Griesinger: “Die Pathologie und Therapie der Psychischen Krankheiten”, 3. Aufl. (1871), Seite 211, Nachdruck Arts & Boeve Verlag, Nijmegen, Niederlande, ISBN 90 75541 30 X

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Bemerkenswert auch der 1. Satz aus dem Vorwort von Wilhelm Griesinger zur 1. Auflage seines Buches aus dem Jahr 1845 wie folgt:

Ich übergebe hier dem ärztlichen Publicum die zusammengefassten Resultate meiner Beobachtungen und meines Nachdenkens über die Geisteskrankheiten.“

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 Anmerkung zum Zitat:

Aus dem Zitat ist ersichtlich, dass Wilhelm Griesinger die psychologische Basis des Wissens in der Psychiatrie erkannt hat, wenn er sinngemäß schreibt, dass dzt. die ganze Classe der Geisteskrankheiten nur symptomatologisch auf Grundlage der psychischen Anomalie – und zwar auf Grundlage der charakterischen Merkmale – erkennbar ist.

Des weiteren hat Wilhelm Griesinger die Relativität des psychiatrischen Wissens erkannt.*

Allerdings hatte Wilhelm Griesinger geglaubt, dass man (gewisse) psychische Krankheiten in Zukunft auf Grundlage der anatomischen Veränderungen des Gehirns wird diagnostizieren können, womit er die Möglichkeit der psychiatrischen Diagnostik jedoch überschätzt hat. Die Grundlage der psychiatrischen Diagnostik hat – so gesehen – erst Karl Jaspers auf Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant richtig erkannt, wenn er in seinem Buch: „Allgemeine Psychopathologie“ (ab der 4. Auflage, erschienen 1946) sinngemäß schreibt, dass psychische Erscheinungen durch die denkende Anschauung unter Führung von Ideen durch die Schemata der Ideen in Bezug auf (definierte) Typen erkannt werden (vgl. mit Jaspers Zitat).

In der Psychiatrie der Gegenwart wird diese Grundlage des psychiatrischen Wissens allerdings nicht (mehr) beachtet. Es wird in der Psychiatrie der Gegenwart nicht (mehr) beachtet und berücksichtigt, dass das Wissen in der Psychiatrie auf psychiatrischen Ideen beruht. In der Psychiatrie der Gegenwart glauben manche Fachleute noch immer, dass es sich dabei um eine Wissenschaft handelt, die so wie die Medizin biologisch begründet werden kann.*

Es denken gewisse Fachleute in der Psychiatrie also heute noch, so wie Emil Kraepelin gedacht hat, der geglaubt hat, dass die Psychiatrie sich zu einem kräftigen Zweig der medicinischen Wissenschaft fortentwickelt (vgl. mit Kraepelin Zitat 2) bzw. dass die Psychiatrie als psychiatrische Wissenschaft ein Zweig der Medizin bzw. der medizinischen Wissenschaft sein kann.

Wie man sich überzeugt ist dies grundsätzlich jedoch nicht möglich, weil eine psychiatrische Einheit eine ganz andere diagnostische Einheit als eine objektiv bestimmbare medizinische Einheit ist.

Bei einer objektiv bestimmbaren medizinischen Einheit handelt es sich um eine faktische Einheit.

Hingegen ist eine psychiatrische Einheit – sei es ein einzelnes psychopathologisches Phänomen oder der ganze psychische Symptomenkomplex der psychischen Störung – immer eine phänomenologische Einheit – und damit eine Einheit die nur auf Grundlage einer definierten Ideen bestimmt werden kann.

Demgemäß kann eine psychiatrische Einheit nur durch die systematische Einheit der psychiatrischen Idee erkannt werden bzw. in der psychiatrischen Diagnostik bestimmt werden.

Oder wie Karl Jaspers geschrieben hat, kann dieser psychische Sachverhalt durch das Schema der Idee nur angenähert erkannt werden (vgl. mit Jaspers Zitat).

Eine psychiatrische Diagnose wird in Bezug auf einen Typus erkannt: 

Eine psychiatrische Diagnose wird in Bezug auf den (definierten) Typus erkannt und kann daher nur subjektiv gültig bestimmt werden, wohingegen in Teilbereichen der Medizin – so wie in den Naturwissenschaften – gewisse diagnostische Einheiten – in Bezug auf Gattungen bestimmt werden können (vgl. mit Jaspers Zitat).

Mit anderen Worten kann man sagen, dass man in der Psychiatrie die diagnostischen Einheiten nur in Bezug auf Typen – und daher nur subjektiv gültig bestimmen kann, wohingegen in der Medizin in Teilbereichen – auf der Grundlage von objektiven Befunden die Zugehörigkeit zu Gattungen allgemein gültig bestimmt werden kann.

Wie Karl Jaspers schreibt sollte man dem gemäß den Unterschied zwischen einem Typus und einer Gattung beachten. Der Typus kann nur auf der Ebene der Ideen – durch das Vergleichen und Gewichten der Ideen – Immanuel Kant spricht daher vom Ponderieren der Ideen – erkannt und bestimmt werden. Dies ist der tiefer liegende Grund warum in der Psychiatrie in Bezug auf krankheitswertige Störungen der Psyche nur subjektiv gültiges Wissen erlangt werden.

In der Psychiatrie ist man also immer mit systematischen Einheiten (vgl. mit Kant Zitat 7) befasst, die angenähert (vgl. mit Jaspers Zitat) durch das Schema der Idee erkannt werden können (vgl. mit Jaspers Zitat und Kant Zitat 7).

Es gibt also den großen Unterschied zwischen der Psychiatrie und der Medizin – wo in einem gewissen Bereich des Wissens faktische Befunde bzw. objektive Befunde erhoben werden können um dadurch die Störung der Gesundheit allgemein gültig zu bestimmen.

Man täuscht sich also in der Psychiatrie und hier insbesondere in der biologischen Psychiatrie wenn man glaubt, dass man ein psychisches Phänomen bzw. einen ganzen psychischen Symptomenkomplex und damit eine psychische Störung biologisch bzw. physisch begründet in der psychiatrischen Diagnostik bestimmen kann. Ebenso täuscht man sich in der Psychiatrie wenn man glaubt die Validität und die Reliabilität einer psychiatrischen Diagnose durch biologische Befunde (physische Befunde) erhöhen zu können. Dies ist wegen des großen Unterschieds zwischen einer systematischen Einheit und einer faktischen Einheit bzw. wegen des großen Unterschieds zwischen einem Gegenstand schlechthin und einem Gegenstand in der Idee (Immanuel Kant) der als systematische Einheit im Bewusstsein der erkennenden Person erscheint grundsätzlich nicht möglich (vgl. mit Kant Zitat 7).*

Daher sollte man in der Psychiatrie die Konsequenzen wie sie sich aus der Grundlage des psychiatrischen Wissen ergeben beachten und berücksichtigen,

(Weiteres auf meiner website dazu-> unter Konsequenzen).

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Hinweis:

Weiteres* zur Basis des Wissens in der Psychiatrie – untersucht auf Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant in meinem Buch:

Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

erschienen im Verlag tredition, April 2019

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(letzte Änderung: 05.01.2023, abgelegt unter: Diagnostik, Psychiatrie, Wissenschaft, psychiatrische Wissenschaft, Zitate)

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Wilhelm Griesinger (b.1817 d.1886), German neurologist, psychiatrist, and specialist for internal medicine who produced the first psychiatric nosology based on psychological phenomena, stated in the sixth chapter of his book „Pathologie und Therapie der Psychischen Krankheiten“ (Pathology and Therapy of Mental Disorders):

“A classification of psychiatric diseases according to anatomical deviations in the brain is impossible at the present time, but, just as the whole class of insanities is only symptomatological, it follows that only different symptom complexes, i.e. different models of insanity, can be presented initially as its various forms. Instead of using the anatomical principle of classification, we have to adhere to the functional, physiological and, since the disturbances of imagination and will are the main and most noticeable ones, this classification will be psychological. Mental illness, therefore, is to be classified according to the type of psychological anomaly. While it is now, however, the task for clinical teaching to emphasize and analyse the diversity of mental disorders in actual cases of illness, it is nosology’s task to suffice with a listing of a few main categories (“Hauptgruppen”) for mental disorders; with a few basic psychological abnormal conditions determined by the same characteristic signs presenting themselves in a great number of cases and, therefore, to which all variations of individual illnesses can be traced back. It is mainly here that we have to describe these basic conditions and their outward appearance and, admittedly, the varieties and boundaries between the individual forms need to be given good consideration; this is, however, something which can never be done in exhaustive detail. …” (page  211)

(translation O. Maeser / A. M. Simma)

from: Wilhelm Griesinger: “Pathologie und Therapie der Psychischen Krankheiten”, 2. Aufl., Berlin 1867, Nachdruck des Verlages E. J. Bonset, Amsterdam, 1967

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