Kant Zitat 10 : Vorrede zur Kritik der reinen VernunftKant quotation 10 : Preface to the Critique of Pure Reason

In diesem Beitrag mit der Bezeichnung Kant Zitat 10 wird ein Teil der Vorrede von Immanuel Kant zur ersten Auflage zu seiner Schrift: Kritik der reinen Vernunft wiedergegeben.

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VORREDE

Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.

In diese Verlegenheit gerät sie ohne ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entferneteren Bedingungen. Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäfte jederzeit unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht sie sich genötigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig erscheinen, daß auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse stehe. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, aus welchen sie zwar annehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrtümer zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Grenze aller Erfahrung hinausgehen, keinen Probierstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik. Anfänglich war ihre Herrschaft,  unter der Verwaltung der Dogmatiker, despotisch. Allein, weil die Gesetzgebung noch die Spur der alten Barbarei an sich hatte, so artete sie durch innere Kriege nach und nach in völlige Anarchie aus und die Skeptiker, eine Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen, zertrennten von Zeit zu Zeit die bürgerliche Vereinigung. Da ihrer aber zum Glück nur wenige waren, so konnten sie nicht hindern, daß jene sie nicht immer aufs neue, obgleich nach keinem unter sich einstimmigen Plane, wieder anzubauen versuchten. In neueren Zeiten schien es zwar einmal, als sollte allen diesen Streitigkeiten durch eine gewisse Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berühmten Locke) ein Ende gemacht und die Rechtmäßigkeit jener Ansprüche völlig entschieden werden;  es fand sich aber daß, obgleich die Geburt jener vorgegebenen Königin, aus dem Pöbel der gemeinen Erfahrung abgeleitet wurde und dadurch ihre Anmaßung mit Recht hätte verdächtig werden müssen, dennoch, weil diese Genealogie ihr in der Tat fälschlich angedichtet war, sie ihre Ansprüche noch immer behauptete, wodurch alles wiederum in den veralteten wurmstichigen Dogmatism und daraus in die Geringschätzung verfiel, daraus man die Wissenschaft hatte ziehen wollen. Jetzt, nach dem alle Wege (wie man sich überredet) vergeblich versucht sind, herrscht Überdruß und gänzlicher Indifferentism, die Mutter des Chaos und der Nacht, in Wissenschaften, aber doch zugleich der Ursprung, wenigstens das Vorspiel einer nahen Umschaffung und Aufklärung derselben, wenn sie durch übel angebrachten Fleiß dunkel, verwirrt und unbrauchbar geworden.

Es ist nämlich umsonst, Gleichgültigkeit in Ansehung solcher Nachforschungen erkünsteln zu wollen, deren Gegenstand der menschlichen Natur nicht gleichgültig sein kann. Auch fallen jene Indifferentisten, so sehr sie sich auch durch Veränderung der Schulsprache in einem populären Ton unkenntlich zu machen gedenken, wofern sie nur überall etwas denken, in metaphysische Behauptungen unvermeidlich zurück, gegen die sie doch so viel Verachtung vorgaben. Indessen ist diese Gleichgültigkeit, die sich mitten in dem Flor aller Wissenschaften eräugnet und gerade diejenige trifft, auf deren Kenntnisse, wenn dergleichen zu haben wären, man unter allen am wenigsten Verzicht tun würde, doch ein Phänomen, das Aufmerksamkeit und Nachsinnen verdient. Sie ist offenbar die Wirkung nicht des Leichtsinns, sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht länger durch Scheinwissen hinhalten läßt, und eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu unternehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst.

Ich verstehe hierunter aber nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien.“

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Zitat aus Band III, Gesammelte Werke, Immanuel Kant: Vorrede (zur ersten Auflage) “Kritik der reinen Vernunft”, Seite 11-13, Suhrkamp Taschenbuchausgabe, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, 1. Auflage 1974, ISBN  3-538-27653-7

Link zur frei zugänglichen Werkausgabe der gesammelten Werke von Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden (digitalisierte Ausgabe von Google). Siehe dort Seite 11

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(abgelegt Aug. 2009, unter Zitate, letzte Änderung 02.12.2019)

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Kant´s Preface to the first edition (1781)

(J. M. D. Meiklejohn translation)

„Human reason, in one sphere of its cognition, is called upon to consider questions, which it cannot decline, as they are presented by its own nature, but which it cannot answer, as they transcend every faculty of the mind.

It falls into this difficulty without any fault of its own. It begins with principles, which cannot be despensed with in the field of experience, and the truth and sufficiency of which are, at the same time, insured by experience. With these principles it rises, in obedience to the laws of its own nature, to ever higher and remote conditions. But it quickly discovers that, in this way, its labors must remain ever incomplete, because new questions never cease to present themselves; and thus it finds itself compelled to have recourse to principles which transcend the region of experience, while they are regarded by common sense without distrust.  It thus falls into confusion and contradictions, from which it conjectures the presence of latent errors, which, however, it is unable to discover, because the principles it employs, transcending the limits of experience, cannot be tested by that criterion. The arena of these endless contests is called Metaphysic.

Time was, when she was the queen of all the sciences; and, if we take the will for the deed, she certainly deserves, so far as regards the high importance of her object-matter, this title of honor. Now, it is the fashion of the time to heap contempt and scorn upon her; and the matron mourns, forlorn and forsaken, like Hecuba …..

….. At first, her government, under the administration of the dogmatists, was an absolute despotism. But, as the legislative continued to show traces of the ancient barbaric rule, her empire gradually broke up, and intestine wars introduced the reign of anarchy; while the sceptics, like nomadic tribes, who hate a permanent habitation and settled mode of living, attacked from time to time those who had organised themselves into civil communities. But their number was, very happily, small; and thus they could not entirely put a stop to the exertions of those who persisted in raising new edifices, although on no settled or uniform plan. In recent time the hope dawned upon us of seeing those disputes settled, and the legitimacy of her claims established by a kind of physiology of the human understanding – that of the celebrated Locke. But it was found that – although it was affirmed that this so-called queen could not refer her descent to any higher source than that of common experience, a circumstance which necessarily brought suspicion on her claims – as this genealogy was incorrect, she persisted in the advancement of her claims to sovereignty. Thus metaphysics necessarily fell back into the antiquated and rotten constitution of dogmatism, and again became obnoxious to the contempt from which efforts had been made to save it. At present, as all methods, according to the general persuasion, have been tried in vain, there reigns nought but weariness and complete indifferentism – mother of chaos  and night in the scientific world, but at the same time the source of, or at least the prelude to, the re-creation and reinstallation of a science, when it has fallen into confusion, obscurity, and disuse from ill-directed effort.

For it is in reality vain to profess indifference in regard to such inquiries, the object of which cannot be indifferent to humanity. Besides, these pretended indifferentists, however much they may try to disguise themselfes by the assumption of a popular style and by changes on the language of the schools, unavoidably fall into metaphysical declarations and propositions, which they profess to regard with so much contempt. At the same time, this indifference, which has arisen in the world of science, and which relates to that kind of knowledge which we should wish to see destroyed the last, is a phenomenon that well deserves our attention and reflection. It is plainly not the effect of the levity, but the matured judgement of the age, which refuses to be any longer entertained with illusory knowledge. It is, in fact, a call to reason, again to undertake the most laborious of all tasks – that of self-examination, and to establish a tribunal, which may secure it in its well-grounded claims, while it pronounces against all baseless assumptions and pretensions, not in an arbitrary manner, but according to its own eternal and unchangeable laws. This tribunal is nothing less than the Critical Investigation of Pure Reason.

I do not mean by this a criticism of books and systems, but a critical inquiry into the faculty of reason, with reference to the cognitions to which it strives to attain without the aid of experience; in other words, the solution of the question regarding the possibility or impossibility of Methaphysics, and the determination of the origin, as well as of the extent and limits of this science. All this must be done on the basis of principles.“

(end of quotation)

Immanuel Kant, Critique of Pure Reason, Dover Philosophical Classics, 2003, unabridged republication of J. M. D. Meiklejohn`s translation as published in 1900 by the Colonial Press, London and New York, page vii-ix.

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