Konsequenzen- für die Psychiatrie – als Folge der Erkenntnisbasis, 4. Teil

In den Beiträgen Konsequenzen werden in Bezug auf die Philosophie von Immanuel Kant verschiedene Aspekte diskutiert wie sie sich aus der Erkenntnisbasis ergeben.

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Karl Jaspers schreibt:

Wissenschaft, wo sie echt ist, ist in ihren Aussagen allgemeingültig und zugleich kritisch, weil sie weiß, was sie weiß und was sie nicht weiß.

(Ende des Zitats)

(aus: K. Jaspers, Wesen und Kritik der Psychotherapie, Seite 18, R. Piper & Co. Verlag München, 1955).

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Dem Anspruch, eine Wissenschaft zu sein, die allgemeingültiges Wissen hervorbringt bzw. hervorbringen kann, können die Psychiatrie, die Psychologie und Psychotherapie – als Wissenschaften prinzipiell nicht genügen.

Dies ist deswegen nicht möglich, weil sich das Wissen in diesen Wissenschaften und damit auch das Wissen in der psychiatrischen Wissenschaft auf subjektives Wissen und nicht auf objektives Wissen gründet.

Dies wiederum hat seine Ursache darin, dass psychiatrisches (psychologisches, psychotherapeutisches) Wissen sich auf „Gegenstände in der Idee“ gründet, die „bloße Ideen“ im Sinn von Immanuel Kant sind. (vgl. mit Kant Zitat 4)

Daher ist es in der Psychiatrie notwendig, dass die psychiatrischen Kategorien per Übereinkunft, also per Konvention, sprich durch den Konsens einer Expertenmeinung auf der Ebene der Ideen, bzw. auf der Ebene der Vorstellungen definiert werden.

Das heißt philosophisch gesprochen sind diese Einheiten dogmatisch definiert. (vgl. mit Kant Zitat 10)

Tatsächlich sind die diagnostischen Einheiten in der Psychiatrie systematische Einheiten im Sinn von Immanuel Kant. (vgl. mit Kant Zitat 4, Kant Zitat 7 und Kant Zitat 8)

In diesem Sinne hat Philippe Pinel in Frankreich erste diagnostische Einheiten und damit erste systematische Einheiten in der Psychiatrie gebildet und es hat Wilhelm Griesinger in Deutschland auf der Grundlage von systematischen Einheiten eine erste psychiatrische Nosologie durch die Kategorien: psychische Depressionszustände, psychische Exaltationszustänge und psychische Schwächezustände gebildet. (vgl. mit diesem Beitrag und diesem Beitrag)

Das heißt auf der Grundlage der klinischen Beobachtungen und Erfahrung wurden erste Einheiten im Sinn von psychischen Symptomenkomplexen erkannt und es sind aus diesen Einheiten die ersten psychiatrischen Kategorien bzw. die Kriterien der ersten diagnostischen Einheiten hervorgegangen. Diese Einheiten haben sodann jeweils innerhalb einer gewissen Sammlung von Einheiten eine systematische psychiatrische Klassifikation gebildet. (Weiteres dazu in diesem Beitrag)

In weiterer Folge haben die Fachleute auf der Grundlage ihrer klinischen Beobachtung und Erfahrung modifizierte Kategorien und teils auch neue systematische Einheiten definiert, beziehungsweise sind diese – in Folge ihrer denkenden Anschauung erkannt und von ihnen so modifiziert und definiert worden. (vgl. mit Jaspers Zitat)

Auf diese Art und Weise entstanden in der Psychiatrie, je nach der individuellen fachlichen Sichtweise der Fachleute an verschiedenen Orten unterschiedliche „geistige Raster“, durch die man die Vielfalt der psychischen Erscheinungen auf der mentalen Ebene auf verschiedene Arten und Weisen geistig auffassen konnte. (vgl. mit Kant Zitat 7)

Auf dieser Grundlage sind die lokal in Verwendung befindlichen Schemata weiter entwickelt worden und kam es später auf der Grundlage solcher Einheiten, wie sie zuletzt von Emil Kraepelin in seinem Lehrbuch beschrieben worden sind (-> siehe dazu diesen Beitrag) in den USA zur Entwicklung der DSM-Klassifikation und noch später in Europa durch die WHO zur Entwicklung der psychiatrischen ICD-Klassifikation.

Aktuell sind die ICD-10 Klassifikation und die DSM-IV Klassifikation in Verwendung.

Mit anderen Worten: in der Psychiatrie kam es auf der Grundlage der entstandenen psychiatrischen Ideen zur Entwicklung der teils differierenden psychiatrischen Kategorien, die in ihrer Gesamtheit je eine eigene psychiatrische Klassifikation bilden.

Man erkennt damit, dass die unterschiedlichen Sichtweisen, wie sie in Folge der unterschiedlichen Ideen entstanden sind, letztlich die unterschiedlichen Klassifikationen hervorgebracht haben.

Im Gegensatz zur körperlichen Medizin war es also in der Psychiatrie so, dass nicht körprliche Fakten, wie sie in der Natur vorgefunden bzw. entdeckt worden sind die Klassifikation bestimmt haben, sondern es haben in der Psychiatrie die unterschiedlichen Sichtweisen und damit die unterschiedlichen geistigen Auffassungsweisen zur Ausformung der unterschiedlichen Klassifikationen geführt. Der Unterschied zur Medizin ergibt sich also aus der Erkenntisbasis, die im Fall der objektivierbaren Diagnosen in der Medizin zu objektivierbaren Einheiten geführt hat, wohingegen in der Psychiatrie systematische Einheiten gebildet worden sind, die ihrerseits nicht objektivierbar sind, weil sie auf der Grundlage von Ideen (vgl. mit Kant Zitat 7) und zwar auf der Grundlage von bloßen Ideen (vgl. mit Kant Zitat 4) erkannt werden.

Man erkennt damit, dass eine psychiatrische Klassifikation auf der Ebene der Ideen definiert ist, wohingegen die medizinische Klassifikation – wobei hier die objektiv bestimmbaren Einheiten gemeint sind – auf der Ebene der Körperlichkeit bzw. auf der Ebene der körperlichen Befunde bestimmt ist – so wie diese in der „Natur“  vorgefunden bzw. entdeckt worden sind.

Weil sich das Wissen in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) auf mentale Erkenntnisobjekte gründet – die Immanuel Kant als Gegenstände in der Idee bezeichnet (vgl. mit Kant Zitat 7) – war es notwendig, dass diese Einheiten innerhalb einer Konvention – also innerhalb einer Dogmatik (= Ideenlehre) , mit vereinbarungsgemäß festgelegten Kategorien definiert worden sind.

Die psychiatrischen Einheiten sind also einerseits auf der Grundlage der Erfahrung – somit empirisch – und andererseits in Abhängigkeit von der individuellen Auffassungsweise entstanden.

Dies hat der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers umfassend erkannt. (vgl. mit Jaspers Zitat)

Man kann also in der Psychiatrie die psychischen Störungen nicht unabhängig vom Subjekt und auch nicht unabhängig von einer Konvention geistig auffassen und erkennen. Damit findet sich die Psychiatrie als Wissenschaft in einer grundsätzlich anderen Situation als die medizinische Wissenschaft, soweit diese ihre Erkenntnisse auf objektive körperliche Befunde zurückführen und auf dieser Grundlage allgemein gültig bestimmen kann.

Die psychiatrische Wissenschaft gründet ihr Wissen also auf subjektives Wissen, wohingegen die medizinische Wissenschaft in einem Teilbereich ihr Wissen auf objektives Wissen gründet bzw. gründen kann.

Allgemeingültig wäre das psychiatrische Wissen nur dann, wenn es unabhängig von einer Konvention wäre – was – wie man sich sogleich überzeugt – nicht der Fall ist und auch nicht möglich ist, weil das Wissen auf der Grundlage von Ideen entsteht bzw. das Wissen mit Hilfe der Schemata dieser Ideen gewonnen wird. (vgl. mit Kant Zitat 7 und Jaspers Zitat)

Dies hat praktische Konsequenzen zur Folge:

Die Psychiatrie ist also, weil die psychischen Störungen phänomenologisch erfasst werden, keine „Naturwissenschaft“ , das heißt ihr Wissen steht nicht auf einer „physischen“ Basis, sondern auf einer mentalen Basis, nämlich auf der Basis von psychischen Phänomenen (gr. phenomen – das was erscheint, das Erscheinende) bzw. auf der Basis der systematischen Einheiten die in den psychiatrischen Kategorien einer psychiatrischen Klassifikation definiert worden sind.

In dieser Hinsicht hat sich also Emil Kraepelin getäuscht, als er geglaubt hat, dass ein Teil der psychischen Krankheiten und damit ein Teil der psychiatrischen Diagnosen in Zukunft allgemein gültig feststellbar ist. (vgl. mit Kraepelin Zitat 1 und den anderen Krapelin Zitaten)

Wegen der ideologischen Erkenntnisgrundlage kann man in der Psychiatrie nur relatives Wissen, von unterschiedlichem Grad in Bezug auf „projektierte Einheiten“ gewinnen. Es wird also in der Psychiatrie das Wissen auf der Grundlage von psychiatrische Ideen erlangt, die ihrerseits mit der Hilfe der Schemata dieser Idee erkannt werden.

Das psychiatrische Wissen ist also von der Art, wie das „Wissen“ eines Richters, der bei einem Indizienprozess „dieses“ und „jenes“ hört und sieht und im Rahmen der Beweiswürdigung zu seiner (subjektiven) Entscheidung gelangt – ohne, dass er diese Entscheidung „physisch“ unter Beweis stellen kann.

Genau auf diese Art und Weise gelangt auch ein Arzt bzw. ein Psychiater – dort, wo er seine Erkenntnisse auf der Grundlage von nicht „physisch“ überprüfbaren Symptomenkomplexen gewinnt zu Erkenntnissen, die er nicht objektivieren kann. Er kann seine so gewonnenen Erkenntnisse nicht im Hier und Jetzt am „Probierstein der Erfahrung“ prüfen. (vgl. mit Kant Zitat 10)

Ein Psychiater kann also nicht demonstrieren und allgemein gültig beweisen, dass die von ihm festgestellte Erkenntnis bzw. die von ihm festgestellte psychiatrische Diagnose objektiv gültig und damit allgemein gültig ist.

Es handelt sich also in der Psychiatrie (Pschologie und Psychotherapie) – und auch in einem Teilbereich der Medizin – um ein Wissen, das auf der Grundlage von subjektiver Evidenz und nicht auf der Grundlage von objektiver Evidenz erlangt wird.

Erst im Lauf der weiteren Erfahrung erweist es sich, ob die diagnostische Einschätzung „richtig“ war, insofern sich im Laufe der Erfahrung zeigt,  ob die aus der Diagnose abgeleiteten Therapiemaßnahmen sich als „nützlich“ bzw. zweckmäßig erweisen. (vgl. mit Kant Zitat 2)

Das heißt, wenn das Therapieziel erreicht wird, dann war die angewandte Idee bzw. die angewandte Diagnose bzw. in der Psychiatrie die angewandte psychiatrische Theorie richtig. Es ist also im Nachhinein eine relative empirische „Überprüfung“ der ursprünglich festgestellten Diagnose möglich.

Das heißt eine relative Überprüfung auf der Ebene der Vorstellungen ist im Nachhinein – im günstigen Fall möglich – hingegen ist eine „physische“ Prüfung auf der Grundlage von „physischen“ Befunden bzw. auf der Grundlage von „physischen“ Objekten, also eine Überprüfung auf der Grundlage von „physischen“ Parametern – im Sinn von biologischen Markern – in der Psychiatrie (Psychologie und Psychotherapie) – und auch in einem Teilbereich der Medizin – im „Hier und Jetzt“ grundsätzlich nicht möglich.

Anders gesagt: eine unmittelbare, objektive und allgemeingültige „physische“ Überprüfung bzw. Objektivierung der Erkenntnis im“Hier und Jetzt“ ist in diesen Fällen nicht möglich.

Es kann also bis zu einem gewissen Grad im Nachhinein empirisch auf der Ebene der Ideen im Einzelfall und auch statistisch „geprüft“ werden, ob die ursprüngliche diagnostische Einschätzung „richtig“ oder „falsch“ war bzw. kann man im Nachhinein auf dieser Grundlage evaluieren, ob der angestrebte „Zweck“ erlangt worden ist. (vergl. mit dem Kant Zitat 2).

Analoges gilt auch für die Psychologie und Psychotherapie.

Im vorgenannten Sinne sind also die Psychiatrie, die Psychologie und auch die Psychotherapie zwar empirische Disziplinen und können durch empirisch wissenschaftliche Studien gewisse Erkenntnisse gewonnen werden, diese Erkenntnisse können jedoch nicht, so wie es in einem Teilbereich der körperlichen Medizin möglich ist „physisch“ überprüft werden, sondern es können diese Erkenntnisse nur „mental“, also nur auf der Ebene der Vorstellungen überprüft werden. Mit anderen Worten: es ist nur eine subjektive Prüfung auf der Ebene der Ideen möglich, wohingegen in der Medizin in vielen Fällen eine objektive Prüfung auf der Ebene von körperlichen Befunden möglich ist.

Das Wissen in der psychiatrischen Wissenschaft basiert also nicht auf objektiven Daten, wie dies in Teilbereichen der somatischen Medizin der Fall ist, sondern nur auf subjektiven Daten.

Das heißt in der Psychiatrie wird ausgehend von subjektiven Wahrnehmungen durch synthetische Urteile ein Wissen erlangt das subjektives Wissen ist. In der psychiatrischen Wissenschaft können die auf diese Art und Weise erhobenen diagnostischen und sonstigen Feststellungen gezählt und weiter nach statistischen Methoden ausgewertet werden. Dabei sollte man allerdings berücksichtigen auf welcher Erkenntnisbasis dieses Wissen entstanden ist.

Erkenntnistheoretisch bzw. philosophisch gesprochen kann man sagen: das Wissen in der Psychiatrie (Psychologie, Psychotherapie) basiert auf synthetischen Urteilen (vgl. mit Kant Zitat 7), das gemäß dem persönlichen Verständnis und der spekulativen Vernunft  von einzelnen Personen erlangt worden ist.

In Bezug auf eine diagnostische Feststellung kann man in der Psychiatrie nicht empirisch prüfen, ob die Feststellung bzw. die diagnostische Entscheidung „richtig“ ist oder „falsch“ ist. Das heißt es kann das diagnostische Urteil nicht am „Probierstein der Erfahrung“ allgemein gültig geprüft werden, weil es sich in der Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie um Wahrnehmungsurteile und nicht um Erfahrungsurteile im Sinn von Immanuel Kant handelt. (vgl. mit Kant Zitat 6)

Daher befindet sich die Psychiatrie – im Vergleich zu den anderen medizinischen Disziplinen – in einer Sondersituation und es kann dieser Sachverhalt nicht durch „empirisch“- wissenschaftliche Studien überwunden werden.

Auch in der Rechtssprechung kann man im Nachhinein nicht „empirisch“ überprüfen, ob in einem Fall ein Richter bei einem Indizienprozess „richtig“ entschieden hat (außer wenn dann im Nachhinein z.B. noch mit einer aufgefundenen Spermaprobe ein allgemeingültiger Gentest gemacht werden kann, wodurch sodann allgemeingültig aufgezeigt und entschieden werden kann (anhand einer „Beschaffenheit“ bzw. eines „Gegenstandes schlechhin„) wer der Täter war, wenn mehrere Personen zur Auswahl stehen – womit es sich dann allerdings nicht mehr um einen Indizienprozess handelt – bzw. dieser Terminus Indizienprozess nicht mehr zutreffend ist.

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(Beitrag in Arbeit, letztes update 1.5.2013, abgelegt unter Konsequenzen)

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