Robert Jütte Zitat : Naturheilkunde kontra naturwissenschaftliche Medizin

Robert Jütte schreibt in seinem Buch Geschichte der Alternativen Medizin (Buchnachweis siehe unten) wie folgt:

1.4 „Naturheilkunde“ kontra „naturwissenschaftliche“ Medizin (1850-1880)

„Die „wissenschaftliche Medizin„, von der bereits Hufeland gesprochen hatte, war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stark zersplittert.

Erst allmählich konnte die naturwissenschaftliche Richtung, die sich an Pariser Vorbildern orientierte, an Boden gewinnen. Noch war ein Großteil der studierten Ärzte nicht bereit, den „Ikarusflug der metaphysischen Spekulation“, wie der bekannte Physiologe Hermann von Helmholz (1821-1894) die einseitige Ausrichtung auf das verstandesmäßige Durchdringen der Medizin nannte, abzubrechen und sich auf den Boden der durch physikalische und chemische Methoden gewonnenen Erkenntnisse zu begeben. Rudolf Virchow (1821-1902), der Begründer der Zellularpathologie und Hauptvertreter dieser neuen Richtung in der Medizin, beklagte sich noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts, daß naturwissenschaftliche Methoden wie die Auskultation mittels Stethoskop, die Perkussion (Abklopfen) und die mikroskopische Untersuchung  als „noch immer sehr anrüchig“ in der Ärzteschaft gelten würden.

Wenige Jahrzehnte später hatte sich das Bild vollständig gewandelt. Der Sieg der naturwissenschaftlichen Richtung in der Medizin schien perfekt zu sein. Auf der Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte 1873 in Wiesbaden erklärte Virchow nicht ohne Genugtuung: „Meine Herren, wir leugnen es nicht; wir erkennen an, frei, offen, gerne, daß erst die Einführung der naturwissenschaftlichen Methode in die Medizin die Tradition gebrochen hat, diese 2000 jährige Tradition, die in aller Kopf ist, in jedes Menschen Sprache und Denkweise.“

Die bahnbrechenden Entwicklungen auf dem Gebiet der Physik, der Chemie, der Physiologie und anderer Grundlagenfächer der naturwissenschaftlichen Medizin führten zu einem neuen Krankheitsbegriff, der besagt, daß jede krankhafte Störung einen lokalen Anfang und einen anatomischen Sitz im Körper hat. Auf der Suche nach dem krankhaft veränderten Teil im Körper, das es zu lokalisieren gilt, stieß Virchow auf die Zelle.

Von der Lokalisation der Krankheit zur lokalen Therapie jener Teile des Körpers, die Träger der Krankheit sind, war es nach Virchow nur ein kleiner, aber revolutionärer Schritt, denn er bedeutete den „Umsturz der alten Therapie“, die durch Aderlaß und durch andere „ausleerende“ Verfahren gekennzeichnet war. Die Suche nach dem spezifischen Ort oder Sitz der Krankheit bedeutete aber zugleich die Reduktion von der Körpergesamtheit auf einzelne lokalisierbare Phänomene. Die Folge war der Verlust einer ganzheitlichen Sicht von Krankheit und Gesundheit. Der Kranke wurde zum Objekt, zum Gegenstand, der vom Arzt ausgeforscht, abgeklopft und abgehorcht wurde. Der „ärztliche Blick“ verengte sich, richtete sich fortan auf das kranke Organ, die Einheit von Seele und Leib fand keine Berücksichtigung mehr.

Bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts spürten die Ärzte, die der neuen Richtung kritisch gegenüberstanden, daß der Wind ihnen ins Gesicht blies und daß sie durch ihr Festhalten an der traditionellen Betrachtungsweise sich der Gefahr aussetzten, sich auf die „Stufe der Quacksalberei degradieren“ zu lassen. Und genau das trat auch ein. So erklärte beispielsweise ein Teilnehmer an der Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte, die 1878 in Kassel stattfand: „So wird uns Ärzten das Evangelium der naturwissenschaftlichen Medizin schon lange verkündet. Und wer unter den Ärzten dieses Evangelium nicht anerkennt, der verdient, wie ich es offen auszusprechen wage, den Namen eines Arztes nicht mehr.“

Das Verhältnis der an den Universitäten gelehrten Medizin zu den übrigen Heilsystemen wurde durch diese Entwicklung wesentlich beeinflusst. Die Folge war, daß die Anhänger der Homöopathie, des Mesmerismus, der Naturheilkunde und anderer medizinischer Richtungen jener Zeit, die das neue naturwissenschaftliche Paradigma nicht übernehmen konnten oder wollten, ins wissenschaftliche Abseits gerieten und als Quacksalber und Kurpfuscher diffamiert wurden. Allerdings waren sich die führenden Vertreter der naturwissenschaftlichen Schule durchaus bewußt, daß die von ihnen viel geschmähten Gegner mächtige Bundesgenossen hatten, wie Virchow bereits 1845 klar erkannt hatte: „Weniger groß, doch um so bedeutungsvoller durch ihren Einfluß auf leicht bewegliche Volksmassen, ist die Cohorte der Propheten des Aberglaubens, Homöopathie und Hydrotherapie, Magnetismus und Exorzismus – Phantome des Mittelalters – erheben ungestört ihr Haupt, und das Licht der Wissenschaft ist noch nicht klar genug, um sie ungesühnt zerstreuen zu können.“ Wie dieses Virchow-Zitat bereits andeutet, stellte um die Jahrhundertwende die Homöopathie längst nicht mehr die einzige Herausforderung an die sich etablierende naturwissenschaftliche Richtung der Medizin dar. Seit den 1850er Jahren verlagerte sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzung von der bisherigen Außenseitergruppe, nämlich den Homöopathen, auf eine andere, gerade erstarkende medizinkritische Massenbewegung, die im Laienmilieu ihren Ursprung hatte. Fortan stand nicht mehr so sehr der alte Streit zwischen Homöopathie und sogenannter Allopathie im Vordergrund. Es hatte sich vielmehr eine neues Gegensatzpaar („Natur kontra Naturwissenschaft„) herausgebildet, das über die Jahrhundertwende hinaus für Zündstoff in der in gesundheits- und standespolititischen Diskussion sorgte.“

Zitat aus :

Robert Jütte, Geschichte der Alternativen Medizin, Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute, Seite 27-29, Verlag C.H. Beck München, 1996, ISBN 3 406 40495 2

(abgelegt am 5.8.2014, unter Zitate)

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Anmerkung zum Zitat:

Natürlich hat Virchow recht, wenn er durch seine Aussagen (siehe obige Zitate) darauf hinweist, dass das faktische Wissen in der Medizin den vorrangigen Stellenwert hat. Neben diesem Wissen, das auf objektive Befunde oder zumindest auf körperliche Befunde, etwa solche der Zellularpathologie zurückgeführt werden kann, oder das durch sonstige physische Befunde erhoben werden kann (Chemie, Biochemie, Bildgebung etc.) gibt es in der Heilkunde und hier auch in der Medizin in vielen Bereichen medizinisches Wissen das letztlich nicht auf eine physische Grundlage zurückgeführt und auf dieser Basis allgemein gültig bestimmt werden kann.

Mit anderen Worten: es gibt in der Medizin in vielen Fällen Wissen das auf Ideen beruht, die aus der Erfahrung abgeleitet worden sind. Es ist dieses Wissen zwar empirisch entstanden, andererseits jedoch Wissen das nicht auf körperliche Fakten zurückgeführt und auf dieser Grundlage allgemein gültig bestimmt und allgemein gültig bewiesen werden kann.

Und so gesehen hat Rudolf Virchow die Möglichkeit des physischen (physikalischen / physiologischen) Erkennens und Wissens in der Medizin  überschätzt.

Wie man sich überzeugt, gibt es in der Medizin viel an Wissen, sowohl im praktischen Alltag und auch in der medizinischen Wissenschaft das auf Ideen beruht, die aus der Erfahrung abgeleitet worden sind. Es sind dies also abgeleitete Ideen, die ihrerseits nicht physisch überprüft werden können.

Man hat es in der Heilkunde – und hier nicht nur in der Psychiatrie – mit Kant`schen Ideen zu tun, wie dies Karl Jaspers in Bezug auf die Psyche realisiert hat, wenn er treffend in seinem Buch: Allgemeine Psychopathologie schreibt: wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so kann ich mich dem Ganzen als Idee durch das Schema der Idee nur nähern (vgl. mit Jaspers Zitat).

In diesem Sinn handelt es sich in der Medizin etwa beim Begriff Vegetative Dystonie um eine Erkenntnis, die auf einer solchen Kant`schen Idee beruht – die Kant selbst als bloße Ideen bezeichnet. Des weiteren gründen sich auch die medizinischen Diagnosen: Fibromyalgie, Fatigue Syndrom, Somatoforme-Schmerzstörung – und ebenso etwa die primären Kopfschmerzformen: Migräne, Spannungskopfschmerz u. a. auf derartige Ideen bzw. Einheiten, die niemals physisch  bzw. niemals physikalisch überprüft werden können. Auch handelt es sich beim Phänomen Schmerz grundsätzlich und so auch bei vielen anderen medizinischen Phänomenen und auch bei den medizinischen Symptomen um Erkenntnisobjekte, die nicht physisch diagnostisch bestimmt werden können. Es gibt in der Medizin genügend Diagnosen, die allein aufgrund des Symptomenkomplexes erkannt und in der Diagnostik bestimmt werden können.

Immer handelt es sich hierbei also um Diagnosen, die aufgrund der klinischen Erscheinung vom Arzt nur subjektiv gültig bestimmt werden können.

Es ist dies also medizinisches Wissen das auf medizinischen Ideen beruht, bei dem man unter Umständen denkt, dass es eine physische Grundlage im Sinne einer physischen Einheit bzw. im Sinne einer zu Grunde liegenden faktischen Natureinheit respektive im Sinne einer körperlichen natürlichen Krankheitseinheit gibt. In der Wirklichkeit der physischen Realität gibt es jedoch keine faktisch abgegrenzte physische Einheit im Sinne einer faktischen Einheit, die mit einer solchen nur problematisch zum Grund gelegten Einheit (vgl. mit Kant Zitat 8) korrespondiert. Vielmehr handelt es sich hierbei um nützliche Konzepte. Es sind dies also zweckmäßige Einheiten im Sinne von Immanuel Kant durch die man sich eine solche Einheit als „abgegrenzte Einheit“ auf der Ebene der Ideen vorstellen und damit denken kann, aber eben, es ist eine nur konzipierte Einheit und keine wirklich existente, keine physische, somit keine faktische Einheit, die auf der Ebene der Objekte im Sinne von Virchow physisch bzw. physikalisch bestimmt werden kann. Insofern hat also Virchow das physikalisch, physiologisch begründete Erkennen / Wissen und damit die Möglichkeit des Diagnostizierens in der Medizin, in weiten Bereichen, überschätzt.

In keinem Fall handelt es sich bei derartigem Wissen um faktisches Wissen das auf der Ebene der Objekte physisch und daher mit physischen (physiologischen) Methoden festgestellt und mit einem physischen Maßstab gemessen und nachgewiesen bzw. überprüft werden kann, sondern man kann durch physische Befunde solches Wissen unter Umständen (besser) erklären und damit (besser) verstehen aber diagnostisch bestimmen kann man es auf dieser Grundlage nicht.

Man erkennt damit, dass das ideologisch begründete Wissen in der Medizin, auch heute noch in weiten Bereichen seine Berechtigung hat und es handelt sich hier nicht nur um Aberglauben und um Phantome des Mittelalters – wie dies Virchow geglaubt und geschrieben hat (siehe obiges Zitat), sondern es sind dies je nach Fall und Sachverhalt nützliche regulative Prinzipien bzw. nützliche medizinische Theorien durch die man den jeweiligen medizinischen Sachverhalt unter Umständen auf Grundlage einer solchen Theorie verstehen und erklären kann und auf deren Grundlage Ärzte therapeutische Methoden entwickelt haben, die sich in der Praxis in vielen Fällen hinreichend bewährt haben.

Es erkennt also ein im Sinne der Aufklärung aufgeklärter Arzt und Wissenschafter, dass es in der Medizin unterschiedliche Grade des Wissens gibt, nämlich, dass ein Teil des Wissens faktisch gesichert und daher objektives Wissen ist, wohingegen anderes Wissen nur subjektives Wissen ist, das je nach Fall und Sachverhalt, mehr oder weniger einleuchtend evident ist und daher mehr oder weniger (subjektiv) evident im Bewusstsein der Fachperson als subjektiv richtig und zutreffend erscheint. Es handelt sich hierbei also um subjektive Evidenz, wie sie auf der Grundlage einer Theorie bzw. auf der Grundlage eines medizinischen Konzepts zustande kommt und nicht um objektive Evidenz, wie sie in der Naturwissenschaft in gewissen Bereichen gegeben ist.

Weil also das Wissen in der Medizin zum Teil überschätzt wird hat sich zum Teil ein pseudo naturwissenschaftliches Denken breit gemacht, wo es eigentlich keine entsprechende Basis bzw. Grundlage dafür gibt.

Ja, es hat sich in der Medizin in weiten Bereichen schon eine Art des Denkens etabliert, die man als technokratisches Denken bezeichnen kann – und zweifelsohne ist hier Kritik gerechtfertigt – genauso wie sie zur Zeit von Virchow in Bezug auf das nur auf tradierte Vorstellungen gegründete Denken (Beispiel:: unkritischer Aderlaß, Arsenkuren etc.) gerechtfertigt war.

Letztlich muss die Medizin (und Psychiatrie) der Gegenwart es sich also gefallen lassen und sich selbst zuschreiben, dass sie in berechtigte Kritik geraten ist und sie deswegen nicht wenige Patienten an die Paramedizin verliert, wenn sie als empirische Wissenschaft mit überstrapazierter Naturwissenschaftlichkeit auftritt.

Man kann auch sagen, dass das im Sinne der Aufklärung aufgeklärte Publikum die Grenzen der Wissenschaft in der universitären Medizin erkannt hat und deswegen den überhöhten Anspruch zurückweist (vgl. mit Kant Zitat 10).

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Hinweis:

Weiteres zum Stellenwert der Alternativmedizin / Komplementärmedizin im Vergleich mit der universitären Medizin (Schulmedizin) in meinem Buch:

Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin

erschienen im Verlag tredition, April 2019.

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(letzte Änderung 04.05.2020, abgelegt unter: Alternativmedizin, Medizin, Psychiatrie, Wissenschaft, Zitate)

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