Jaspers Zitat 6a 1 – natürliche Krankheitseinheit (Vorspann)

In der „Allgemeinen Psychopathologie“ behandelt Karl Jaspers den Begriff der natürlichen Krankheitseinheit.

Erstes Kapitel.

Die Synthese der Krankheitsbilder (Nosologie).

§ 1. Forschung unter der Idee der Krankheitseinheit.

(Es schreibt dort Karl Jaspers nachdem er im gleichen Sinn wie im  Jaspers Zitat 6a geschrieben hat)

„ … Statt die leicht fasslichen Formeln zu übernehmen, haben wir die schwierige Aufgabe, die wirklich begangenen Wege in der Synthese der Krankheiten zu verstehen und die wirklichen Resultate aus den bloßen Behauptungen herauszuschälen“

und es verweist Jaspers sodann auf die umfangreiche Literatur vor allem auf die Aufsätze von:

Kraepelin: Fragestellungen der klinischen Psychiatrie. Zbl. Nervenhk. usw. 1905, 573. –

und

Alzheimer: Die diagnostischen Schwierigkeiten in der Psychiatrie. Z. Neur.1, 1. und weitere Quellen.

Jaspers diskutiert sodann die verschiedenen Ergebnisse der Forschung, davon sei auszugsweise nachfolgendes wieder gegeben:

„ … Im Laufe der historischen Entwicklung haben fast alle psychopathologischen Einheiten einmal als Krankheitseinheiten fungiert. In alten Zeiten waren Halluzinationen „eine“ Krankheit; der Wahn war „eine“ Krankheit; die besonderen Inhalte mancher Handlungen konstituierten „eine“ Krankheit (Pyromanie, Kleptomanie, Dipsomanie usw.)  … 1. Gewisse Symptomverkoppelungen, aus denen nach verschiedenartigen Gesichtspunkten die  Einheit eines Symptomenkomplexes entstand (Melancholie, Tobsucht, Verwirrtheit, Blödsinn) waren die allbeherrschenden Krankheitseinheiten noch um 1880. … 2. Da die Untersuchung der psychologischen Einheiten nirgends überzeugende und allgemein anerkannte Resultate lieferte, suchte man nach einer „natürlicheren“ Einheitsbildung und glaubte sie in den Ursachen des Irreseins zu finden. Alles was die gleichen Ursachen hat, soll zu einer Einheit verbunden sein. … 3. Daneben hatte man schon die Forderung gestellt, daß der anatomische Befund die Einheiten geben sollte. Die einander gleichen Hirnprozesse bilden eine Krankheitseinheit. Jedoch blieb dieser Gesichtspunkt Forderung. … Weder die psychologischen Grundformen, noch die Ursachenlehre (Ätiologie), noch der Hirnbefund hatte zu irgend annehmbaren Krankheitseinheiten, in die alle Psychosen unterzubringen seien, geführt. Kahlbaum und nach ihm Kraeplin haben dann neue Wege beschritten, um trotz allem zu Krankheitseinheiten zu kommen. … Immer weiter hat er (gemeint ist Kraepelin) geformt und umgeformt, um seiner Idee der Krankheitseinheit in einer tatsächlichen speziellen Psychiatrie zur Verwirklichung zu verhelfen. Krankheitsbilder, die gleiche Ursachen, gleiche psychologische Grundform, gleiche Entwicklung und Verlauf, gleichen Ausgang und gleichen Hirnbefund haben, die also im Gesamtbilde übereinstimmen, sind wahre natürliche Krankheitseinheiten. Um solche Einheiten zu finden, dient die allseitige klinische Beobachtung.“

Nach der Diskussion dieser Ergebnisse gelangt Karl Jaspers zu  seiner Feststellung:

„… 3. Die Idee der Krankheitseinheit läßt sich in irgendeinem einzelnen Fall niemals verwirklichen. Denn die Kenntnis des regelmäßigen Zusammentreffens gleicher Ursachen mit gleichen Erscheinungen, Verlauf, Ausgang und Hirnbefund setzt eine vollendete Kenntnis aller einzelnen Zusammenhänge voraus, eine Kenntnis, die in der unendlichen Zukunft liegt. Die Idee der Krankheitseinheit ist in Wahrheit eine Idee im Kantischen Sinne: der Begriff einer Aufgabe, deren Ziel zu erreichen unmöglich ist, da das Ziel in der Unendlichkeit liegt; die uns aber trotzdem die fruchtbare Forschungsrichtung weist und die ein wahrer Orientierungspunkt für empirische Einzelforschung bedeutet. Wir sollen unter allen Gesichtspunkten das Gesamtbild der psychischen Krankheiten erforschen und möglichst nach allen Seiten Zusammenhänge suchen. Dabei finden wir einerseits einzelne Zusammenhänge und andererseits gewisse, immer vorläufige Typen von Krankheitsbildern, die nicht scharf abgrenzbar, aber doch viel “natürlicher” sind als alle früheren einseitigen und konstruktiven Einteilungen. Die Idee der Krankheitseinheit ist keine erreichbare Aufgabe, aber der fruchtbarste Orientierungspunkt.”

aus:

Karl Jaspers: “Allgemeine Psychopathologie”, 9. unveränderte Auflage, Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1973, Seite 472 – 477, ISBN 3-540-03340-8, ISBN 0-387-03340-8

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Weiteres zum Thema Krankheitseinheit in der Psychiatrie in meinem Buch: Diagnostik, Klassifikation und Systematik in Psychiatrie und Medizin, erschienen im Verlag tredition (April 2019)

und in meinem Vortrag:

Ist die Krankheitseinheit Schizophrenie eine natürliche Krankhheitseinheit?

eine Untersuchung auf der Grundlage der Allgemeinen Psychopathologie von Karl Jaspers und der Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant,

gehalten am DGPPN Kongress 2014

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(letzte Änderung 15.05.2019, abgelegt unter: Diagnostik, Psychiatrie, Zitate)

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